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Weihnacht ohne Wunder

Nach dem 0:4 gegen Dortmund muß Benno Möhlmann seinen Anspruch, mit dem HSV dem Mittelmaß zu entfliehen, überdenken  ■ Aus Hamburg Claudia Thomsen

Wunder, unglaubliche Zufälle oder so sind besonders wichtig, wenn Weihnachten wegen Schnee- und Eislosigkeit total unstimmig zu geraten droht. Wenig verwunderlich also, daß die morgendlichen Medien den HamburgerInnen das letzte Frühstück vor dem dritten Advent gleich mit zwei Unglaublichkeiten zu versüßen gedachten: einer tatsächlich sich ereignet habenden und einer möglichen. In Hamburg-Billstedt hatte eine zufällig, wundersam oder so an einer Kreuzung sich befindende 21jährige Friseurin eine neunjährige Schülerin aufgefangen, die von einem Auto erfaßt und vier Meter durch die Luft geschleudert worden war. Und am Nachmittag konnte der HSV per Wunder et cetera in Hamburg-Stellingen gegen den Herbst-, Wunsch- und Wahrscheinlichkeitsmeister aus Dortmund gewinnen.

Verwandt muten beide Geschichten nicht allein wegen ihres sportlichen Charakters an, sondern auch, weil es sich bei der Friseurin, die zu Heldin, Engel oder so mutierte, um eine Frau aus unser aller Mitte handelte. Eine, die vor der Tat nicht spektakulär gut oder schlecht war, vielmehr von beidem wohl ein bißchen und so fern von jeglichem Kultstatus wie – genau – der auf Tabellenplatz neun befindliche Hamburger Sportverein.

„Das meiste spielt sich eben“, so eine typische Weisheit von Trainer Benno Möhlmann, „im normalen Bereich ab.“ Selbst die Skandale geraten, verglichen mit denen im Ruhrgebiet, eher mittelmäßig. Der verunglückte Transfer des angeblich alkoholabhängigen Andreas Sassen, die Abwanderungsgerüchte um Manager Heribert Bruchhagen oder der Möhlmannsche Tritt an Harald Spörls Schienbein – alles aus dem „normalen Bereich“ öffentlich geworden, weil man beim HSV so schwer den Mund halten kann.

In Hamburg taugen zur Mystifizierung allenfalls der Hafen und die Reeperbahn, welche beide ausgewiesenermaßen zu St. Pauli und dessen Fußballclub gehören. Ein HSV-Fan zu sein war in politisch korrekten Kreisen schon immer schwerer und bedeutet heute vor allem: von Erinnerungen zehren. Sicher also kein Wunder, unglaublicher Zufall oder so, daß ausgerechnet Uwe Seeler und Dieter Thomas Heck die Halbzeitunterhaltung der 56.000 übernehmen sollten, die das Volksparkstadion nur fast füllten.

Die Qualität der Einlage entsprach in etwa jener der ersten Halbzeit. Die Spieler des BVB, derzeit mit Mythos und Erfolg ohnegleichen ausgestattet, schienen anfangs zu stolz, um sich im Hamburger Nieselregen kickend zu besudeln, was dem HSV einige Chancen bescherte. Wesentliches ereignete sich jedoch erst bedeutend später, so zwischen 50. und 80. Minute. Es war simpel: Matthias Sammer schien sich mit Andreas Möller und den anderen geeinigt zu haben, doch ein bißchen Fußball zu spielen. Worauf vier Tore fielen. Alle für den BVB, versteht sich. Nummer eins übernahm Sammer nach einer köstlichen Vorlage von Karlheinz Riedle in der 52. Minute selbst, die restlichen drei besorgte Michael Zorc.

Jener Treffer, der den Zorcschen Hattrick komplettierte, resultierte übrigens aus der Verwandlung eines Elfmeters, den Michael Kostner verursachte, als er Karlheinz Riedle im Strafraum fällte. Während HSV-Coach Benno Möhlmann wütend in schnödem Anorak durch den Regen lief und immer nasser wurde, wärmte Ottmar Hitzfeld – ihm wurde ein Schirm gehalten – seine schlanken Hände in den Taschen seines hellen Trenchcoats. Aha: Eleganter ist der auch noch.

Wunder, unglaubliche Zufälle oder so erwarteten selbst die heimischen Fans jetzt nur noch von den Borussen: „Wetten, daß Lars Ricken in der 90. Minute ein Eigentor macht?“ versuchte einer zu retten, was zu retten war, die mäßige Stimmung der treu Ausharrenden nämlich, derweil die vom speziellen Ereignis angelockten Massen bereits nach einer Stunde die unwirtliche Betonschüssel am Volkspark zu verlassen begannen. „Warum sollten wir nicht in der Rückrunde 23 Punkte holen?“ bewies Harald Spörl hernach, daß er zumindest die Hoffnung, der Mittelmäßigkeit zu entfliehen, nicht aufgegeben hatte. „Ein Kompliment an den HSV“, lobte seine Eleganz Ottmar Hitzfeld das angeblich gute Spiel der Hamburger. „Ich weiß das einzuordnen, Ottmar, es ist ja bald Weihnachten“, konterte Möhlmann spröde und im Wissen, daß ihm und den seinen ohne Wunder et cetera der immer noch erhoffte UEFA-Cup-Platz nicht beschieden sein wird.

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