: Der Tragödie neuester Stand
Anmerkungen zu Albrecht Schönes Faust-Ausgabe im Deutschen Klassiker Verlag ■ Von Frank Lucht
Die Neuedition von Goethes „Faust“ durch den Göttinger Germanisten Albrecht Schöne erscheint, während ein 24jähriger Piefke, vom Spiegel als „Vordenker“ der rechtsradikalen „Jungen Freiheit“ etikettiert, in dem Ullstein-Machwerk „Die selbstbewußte Nation“ die alten Zeiten wieder aufleben lassen möchte: „1914 stürmten deutsche Soldaten mit dem ,Faust‘ im Tornister in die Schlacht, den sie alle gelesen hatten, wenn nicht gar auswendig konnten.“
Der Deutsche Klassiker Verlag scheint es nicht ungern zu sehen, wenn um seine Ausgabe ein ähnlicher Rummel entstehen würde wie in den siebziger Jahren um die Frankfurter Hölderlin-Ausgabe. Geworben wird mit einer „zum ersten Mal in der Druckgeschichte der ,Faust'-Dichtung ... wirklich zuverlässigen, authentischen Textgestalt“. Neu beziehungsweise „authentisch“ ist die Restaurierung von Goethes originaler Interpunktion. Modernisiert bleibt die Schreibweise. Denn es handelt sich nicht um eine historisch-kritische, sondern um eine Studienausgabe.
Der Vorzug dieser Edition besteht weniger in der Textgestaltung als in ihrem Kommentar. Er schafft den Dreischritt aus dem gotischen Studierzimmer, in dem Goethes Faust angesiedelt ist, über das beginnende 19. Jahrhundert, in dem Goethe seinen Faust zu Ende brachte, in unsere Zeit, für die ihn Schöne in äußerst geglückter Weise aufgeschlossen hat. Er schwört den Leser nicht auf eine Devotionalie ein, er macht ihn im Bewußtsein der Leistungen früherer Kommentare empfindlich für die Form, und das heißt auch für die Ironie, die das Verhältnis Goethes zu mancher seiner Zeilen bestimmt. Allein, daß der Literaturwissenschaftler den Ausdruck „intertextuelle Verweise“ nicht gebraucht, ohne ihn in einfache Anführungszeichen zu setzen, sagt viel über seinen Takt.
Vor allem ist an dieser Edition zu schätzen, daß sie taktvoll genug bleibt, ihren Liebesdienst am Werk nicht unter der Hand in eine Leibeigenschaft zu verwandeln. Herausgeber sind nicht immer so diszipliniert. Sie haben in ihrem Goethe eigenmächtig herumkorrigiert nach den Korrektheitsmaßstäben eines Spießers, der bei Goethe den Augenblick gekommen sieht, seine Orthographiekenntnisse anzuwenden, mit dem Rotstift dann das Gebiet der Rechtschreibung verläßt und sich an die Korrektur des Wortlauts macht.
Daß beispielsweise Ausrufungszeichen phasenversetzt zum Reim restauriert werden, und in der Anfangsszene von der Tragödie erstem Teil, wo Faust seine Klage beginnt: „Habe nun, ach! Philosophie, / Juristerei und Medizin, / Und leider auch Theologie / Durchaus studiert, mit heißem Bemühn“ das Ausrufungszeichen jetzt wieder nach „Theologie!“ erscheint, ist interessant, vielleicht sogar irritierend. Wenn am Ende von Faust II dem Chorus Mysticus ein verlieblichender Apostroph geraubt wird, so daß es jetzt heißt: „Alles Vergängliche / Ist nur ein Gleichnis; / Das Unzulängliche / Hier wird's Ereignis; / Das Unbeschreibliche / Hier ist es getan (...)“, dann ist klar, daß Goethe statt einem „... hier ist's ...“ mit einem „... hier ist es...“ für die gewünschte Rauhheit und ein den Schlußversen entsprechendes Gewicht sorgen wollte.
Schönes Faust wartet auf mit Paralipomena, die erst seit der in diesem Jahr erschienenen Dokumentation der Mitherausgeberin Anne Bohnenkamp vollständig in ihrem authentischen Wortlaut bekannt sind. Schönes Edition enthält darüber hinaus die Bühnenfassung „Walpurgisnacht. Harzgebirg'“, in die der Herausgeber jene satanischen Verse aus den Paralipomena einsetzt, die Goethes Selbstzensur erlegen waren: An die Böcke zur Rechten und die Ziegen zur Linken erfolgt die Ansprache: „Euch gibt es zwei Dinge / So herrlich und groß: / Das glänzende Gold / Und der weibliche Schoß. Das eine verschaffet, / das andere verschlingt. / Drum glücklich, wer beide / Zusammen erringt!“ An die Ziegen gewandt: „Für euch sind zwei Dinge / Von köstlichem Glanz: / Das leuchtende Gold / Und ein glänzender Schwanz. / Drum wißt euch, ihr Weiber, / Am Gold zu ergötzen, / Und mehr als das Gold / Noch die Schwänze zu schätzen.“ Wenn daraufhin der Chor noch in die Zeilen geht: „O glücklich, wer nah steht / Und höret das Wort!“, ist die blasphemische Heiterkeit erreicht. Diese Paralipomena sind zwar seit Max Heckers Edition noch in der Insel-Ausgabe von 1941 zu finden, aber in einer „überarbeiteten“ Form, will sagen, unzuverlässig.
Der Kommentar ist auf Bescheidenheit angelegt. Bei der inzwischen auf etwa zehntausend Titel geschätzten Sekundärliteratur, die sich in den letzten 160 Jahren angesammelt haben, ist eine bahnbrechende Neuinterpretation auch nicht zu haben. Schöne erteilt Auskunft über seinen Kommentar, indem er ihn zu zwei prominenten, in ihrem Deutungsansatz konträren Faust-Interpretationen in Beziehung setzt, der symbolischen von Wilhelm Emrich („Die Symbolik von ,Faust II‘“, 1943) und der allegorischen Heinz Schlaffers („Faust, Zweiter Teil. Die Allegorie des 19. Jahrhunderts“, 1981). Schlaffers Deutung steht unter dem Diktat von Benjamins Ausführungen, sei es zu Goethe, sei es zur Allegorie. Sie durfte sich auf den Knaben Wagenlenker im ersten Akt von Faust II berufen: „Denn wir sind Allegorien, / Und so solltest du uns kennen.“ Es war ihr Ehrgeiz, dem werkimmanent arbeitenden Symbolentschlüsseln eine epochale Deutung gegenüberzustellen, die begreiflich zu machen versuchte, daß hier das „Kapital“ von Marx und der „Faust II“ Goethes einander kommentieren. Von diesem verdienstvollen allegorisierenden Ausgriff ins geistreiche Ungefähre, in den „Reichtum aus Ungenauigkeit“ (Ernst Bloch), den man nicht unbedingt mit einer linken Hermeneutik verwechseln muß, zieht sich Schöne bei allem Respekt zurück und favorisiert die demütig werkimmanente Texterläuterung eines Emrich.
Wozu sich Allegoresen auch immer eignen, die Arbeit am Text ist nicht ihre Sache; sie verzichten, meint Schöne, weitgehend auf Trennschärfe. Und die, möchte man hinzufügen, erwarten wir heutzutage von jeder HiFi-Anlage. Aber ein Kommentar ist nicht dasselbe wie eine Interpretation. Sie gehen auf verschiedenen Wegen über das Werk hinaus. Der Kommentar versucht den Schaffenskreis einzuholen, die Interpretation hat den Wirkungskreis zu berücksichtigen. Keines von Goethes Werken, abgesehen von „Dichtung und Wahrheit“, stand seinem Leben so nahe und zieht so sehr die Summe wie die Faustdichtung. Sechzig Jahre hatte sie ihn beschäftigt gehalten, als er 1831 lapidar in einem Brief an Zelter, ein Jahr vor seinem Tod schreibt: „Es ist keine Kleinigkeit, das, was man im zwanzigsten Jahre konzipiert hat, im 82. außer sich darzustellen.“
In seinen „hohen Jahren“ verstand er sich „als ethisch-ästhetischer Mathematiker“, der „immer auf die letzten Formeln hindringen“ muß, „durch welche ganz allein mir die Welt noch erfaßlich und erträglich wird“.
Einem französischen Gastgeber hatte er der Höflichkeit halber auf Französisch erklärt: „Mon ÷uvre est celle d'un être collectif et elle porte le nom de Goethe.“ („Mein Werk ist das eines Kollektivwesens, und das trägt den Namen Goethe.“)
Die Gestalt des Faust wurde von Goethe als zutiefst problematisch konzipiert. Er hatte nicht die Absicht, mit ihr eine Identifikationsfigur zu schaffen, womöglich gar eine nationale. Von Schiller wissen wir, daß die Philosophen in Jena seit dem Erscheinen des Faust-Fragments von 1790 begierig auf den Faust schlechthin warteten. Schelling hat ihn in seinen Jenaer Vorlesungen als „unsere mythologische Hauptfigur“ bezeichnet und hinzugefügt: „Andere theilen wir mit anderen Nationen, diesen haben wir ganz für uns allein ...“ Weil er so typisch deutsch sei. Damit begann, wie Schöne im Kommentar erinnert, die chauvinistische Usurpation dieser Dichtung als „Grundbuch der Deutschen“ (Schelling), bis zum Tornisterfaust, erschienen 1915 als Band 1 der „Deutschen Kriegerbibliothek“, und schließlich 1933 als K. Engelbrechts „Faust im Braunhemd“. Faust als „Inkarnation deutschen Wesens und deutschen Sendungsbewußtseins“, der „faustische Mensch“, „faustischer Geist“, „faustischer Glaube“, „faustische Natur“, „faustisches Jahrtausend“, wie es in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts hieß. „Der Hebel“, schreibt Schöne, „mit dem man die ,Faust‘-Dichtung als Hauptwerk unserer Nationalliteratur zu einem Grundbuch des Deutschtums beförderte, setzte bei der Zentralfigur der Tragödie an, der vermeintlich ,recht aus der Mitte des deutschen Charakters‘ geschnitten.“ „Aus solcher Sichtweise wurde Fausts exzentrische Gestalt als eine vorbildhaft- exemplarische wahrgenommen und das Bild dieses geduldlosen, ruhelosen, maßlosen und glücklosen Egozentrikers zum nationalen Mythos verklärt ...“ Wie falsch diese Wahrnehmung oder vielmehr Zurechtstutzung ist, wird deutlich, wenn Schöne die formale
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Modernität des „Faust“ erläutert. Schönes These lautet: Goethe, der als Klassizist zugleich Verschriene wie Gelobte, pfeife auf die Bestimmungen, die Aristoteles der Tragödie abverlangte. Er ignoriert die Einheit von Zeit, Ort und Handlung; er ignoriert mehr noch die Einheit der Person und der Idee. Dieses Gefühl beschlich schon einen Wackermann wie Frankenberger, der 1926 in einer Arbeit zur „Kunstgestalt“ des Faust nicht wahr sein ließ, was aus Gründen deutsch-nationaler Erbauung nicht wahr sein durfte. Sein Argument gegen die „Behauptung“, daß der Faust „ohne Einheit, ohne Form“ sei, (was er, wie Schöne bemerkt, „schlichtweg gleichsetzt“), lautet: Bei einer solchen „Behauptung“ gehe es um mehr als eine „literaturhistorische Frage“. Nämlich es gehe um das „produktive Selbstgefühl unseres Volkes“. Soll es sich „dabei mit dem Troste abfinden, daß wir auch da nur immer das Größte gewollt und nicht erreicht hätten?“ Man kann daraus ersehen, mit welch naivem Identifikationswillen die Wahrnehmung einer Dichtung geschlagen war, die man vergötterte, um sich nicht mit ihr auseinandersetzen zu müssen. Der Faust, vor allem der zweite Teil, untersteht kaum noch den Bestimmungen einer normativen Poetik. In ihm manifestieren sich Goethes Überlegungen zum epischen Gedicht, das sich durch die „Selbständigkeit seiner Teile“ (Schiller) auszeichnet. Oder wie Eckermann folgerte: „Dem Dichter liegt daran, eine mannigfaltige Welt auszusprechen, und er benutzt die Fabel eines berühmten Helden bloß als eine Art von durchgehender Schnur, um darauf zu reihen, was er Lust hat.“ „,Sie haben vollkommen Recht, sagte Goethe...‘“ Also kein deutscher Faust, sondern ein moderner Faust.
Über die Hamburger Ausgabe, erschienen seit 1948, ediert von Erich Trunz, schrieb Reich-Ranicki: „Eine ganze Generation ist mit dieser Ausgabe aufgewachsen, und vorerst spricht alles dafür, daß auch die nächste Generation ihr treu bleiben darf.“ Seit Schönes Edition liest es sich anders.
Johann Wolfgang Goethe: „Faust“. Texte und Kommentare in zwei Bänden, hrsg. von Albrecht Schöne. Deutscher Klassiker Verlag, Frankfurt am Main; 832 und 1.144 Seiten, 240 DM.
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