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■ Nebensachen aus ParisDer Schnäuzer und der Mann mit dem blauen Fahrrad

„Haben Sie den Mann mit dem blauen Fahrrad gesehen?“ – die Frage kam so unvermittelt und der Fragende war so kräftig gebaut, daß an ein Ausweichen gar nicht zu denken war. Erst nachdem ich wahrheitsgemäß „nein“ geantwortet hatte, fiel mir auf, daß ich soeben belästigt worden war – am frühen Vormittag, in meinem eigenen Treppenhaus.

Ein fremdes Gesicht mit Schnäuzer, ganz nah an meines herangeschoben, unterbrach diese Überlegungen. „Er hat genau denselben Kopf wie sie. Es ist Ihr Bruder“, zischte es mich wütend an. Der große Mann bebte am ganzen Körper. Ihm mußte Schlimmes widerfahren sein. Da er seine Identität und sein Anliegen nicht preisgeben wollte, lächelte ich ihn an, wie es sich hierzulande gehört, und wünschte einen guten Tag.

Drei Stunden später hatte ich den Mann bereits vergessen. Ich saß daran, einen Artikel vorzubereiten, als es an meiner Wohnungstür schellte. Ein Blick durch den Spion sollte mich nur vergewissern, daß es sich um einen Vertreter handelte, dem ich nicht zu öffnen brauchte. Doch da vibrierte die gepanzerte Türe bereits unter Schlägen von der anderen Seite und eine mir bekannte Stimme brüllte: „Machen Sie auf, ich weiß, daß Sie da sind.“ In der geöffneten Tür klagte er mich an: „Der Mann mit dem blauen Fahrrad kam aus Ihrer Wohnung.“ Dabei schwenkte er zwei handschriftlich ausgefüllte Formulare und fügte triumphierend hinzu: „Die Polizei weiß alles. In ein paar Stunden ist sie bei Ihnen.“

„Vielleicht solltest du selbst zur Polizei gehen“, riet ein deutscher Bekannter. Das schien mir verfrüht, zumal ich gehört hatte, daß hierzulande die Autoritäten nur in äußersten Notfällen gerufen werden. Die betagte Nachbarin von gegenüber begrüßte mich hinter vorgelegter Türkette. „Ach, Sie sind es“, sagte sie erleichtert, „wissen Sie, ich habe schreckliche Angst hier in Paris. Wenn meine Kinder mich nach Hause bringen, schauen sie immer erst in alle Schränke, bevor sie mich allein lassen.“ Ich fing an, mich zu beunruhigen.

Abends fand ich ein kleines Briefchen unter meiner Wohnungstür. Ein Polizeiinspektor bat mich, schnell anzurufen – eine Zeugenaussage. „Du mußt prüfen, ob das ein echter Inspektor ist“, warnte fürsorglich ein Freund. Beim Kommissariat war niemand mehr zu erreichen, beim polizeilichen Notruf landete ich für zehn Minuten in der Warteschleife, um dann immerhin zu erfahren, daß das Kommissariat am nächsten Morgen um 9 Uhr öffnen würde. Es sei doch nichts Eiliges, „oder?“

Zum Glück kam der Inspektor pünktlich. „In Ihrem Haus ist gestern jemand zusammengeschlagen worden. Der Täter soll aus Ihrer Wohnung gekommen sein“, informierte er mich am Telefon. Irgendwie erleichtert ging ich aufs Kommissariat. Ich erfuhr, daß der „Mann mit dem blauen Fahrrad“ den mit dem Schnäuzer als Juden beschimpft und ihm anschließend einen Zahn ausgeschlagen hatte – am frühen Vormittag, auf dem Treppenabsatz direkt vor meiner Wohnungstüre und noch bevor ich mein Croissant holte. Der Täter war 1,80 groß, Mitte 30 und hatte vorne ein wenig schütteres braunes Haar. Der Inspektor hörte sich an, daß ich seit Tagen überhaupt keinen Besuch gehabt hatte, wie das war mit dem Mann, tippte alles – zweifingrig – in seine Schreibmaschine und entließ mich mit den Worten, daß die Angelegenheit für mich wohl erledigt sei.

P.S.: Mein Bruder, von dem die französische Polizei inzwischen weiß, daß er in Deutschland zu viel zu tun hat, um mit einem blauen Rad durch Paris zu fahren, ist tatsächlich ziemlich groß, braunhaarig und Mitte 30. Nur hat er mich leider noch nie besucht. Dorothea Hahn

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