■ Linke Werte sind fast schon Gemeingut: Der Wirbel der Mitte
In Frankreich erfreute sich im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen kurz ein Kandidat der größten Zustimmung, der jetzt öffentlich nein gesagt hat: Jacques Delors. Sein großes Problem wäre gewesen, wie er, von der Linken zur ihrem Kandidaten erklärt, hätte vermeiden können, als ihr Repräsentant ins Rennen zu gehen. Denn wer sich Delors als Präsidenten wünschte, will noch lange keine Rückkehr der Linken an die Macht. „Delors oui, la gauche non!“ hatte Le nouvel observateur diese Stimmung charakterisiert. Sie mag um so merkwürdiger erscheinen, wenn man die Präferenzen der französischen Wahlbevölkerung liest. Die nämlich sind: die Verteilung der Arbeit (55 Prozent), Kampf gegen Ungleichheiten (54 Prozent), Gleichheit der Chancen (41 Prozent), Kampf gegen die Korruption (36 Prozent), Verteidigung des Weltfriedens (36 Prozent), Menschenrechte (35 Prozent).
Alles klassisch links, sollte man denken. Insbesondere die beiden am häufigsten genannten Werte entsprechen genau denen, die dem italienischen sozialistischen Theoretiker Norberto Bobbio zufolge heute wie eh und je die klare Scheidelinie zwischen links und rechts in der Parteienlandschaft bezeichnen. Wäre demnach die französische Wahlbevölkerung als mehrheitlich links orientiert zu bezeichnen, so sehen sich der Linken doch nur 6 bis 8 Prozent „sehr“ und gerade mal 31 bis 32 Prozent „ziemlich nahe“. Eine Erklärung für diese Diskrepanz ist, daß die Befragten die von ihnen präferierten Werte durch die Linke gar nicht im selben Maße verkörpert sehen.
Mit diesem Vorrang von Gleichheitsansprüchen bildet die französische Bevölkerung in den Ländern der Europäischen Union keine Ausnahme. Er ist so typisch für die westeuropäischen Länder, wie linke Regierungsmehrheiten für sie eher untypisch sind. In diesem Befund steckt eine Frage. Die steckt auch in den auf den ersten Blick nicht weniger merkwürdigen Beurteilungen der bundesdeutschen Wahlbevölkerung. Bekanntlich ist der Wunsch nach einer rot- grünen Regierungskoalition im Bund weit schwächer ausgeprägt, als die Summe der Stimmanteile der beiden Parteien nahelegt. Gleichzeitig haben 30 Prozent gegen eine parlamentarische schwarz-grüne Zusammenarbeit im Bundestag gar keine Einwände, und weitere 40 Prozent würden sie zumindest von Fall zu Fall begrüßen. Wer sind die Gespenster in dieser „Gespensterdebatte?“
Gerade die linken Exponenten der Grünen werfen SPD und CDU so entschieden in einen mit Reformuntätigkeit etikettierten Topf (Trittin), wie sie nachdrücklich die Partei beschwören, den „rot-grünen Faden“ (Volmer) nicht zu verlieren. Die Grünen enthüllen schwarz-rote Kumpanei in einer unerklärten großen Koalition und propagieren die rot-grüne Polarisierung gegen Kohl. Eben dies ist ihre Teilnahme am Spiel der politischen Klasse, statt aus dem Doppelspiel von pragmatischer Kumpanei und scheinhafter Polarisierung auszubrechen. Entweder sind CDU und SPD im wesentlichen gleich, dann sind Koalitionen mit beiden gehoppt wie gedoppt. Dann ist auch die rot- grüne Polarisierung nur fauler Zauber. Oder sie unterscheiden sich wesentlich, dann ist ihre Gleichsetzung nur demagogisches Mittel, um sich selbst als einzige oppositionelle Kraft zu verkaufen.
All diese substanzlosen Spiele scheinen die Bevölkerung zu ermüden. Die gesellschaftlichen Individuen sind sich untereinander heute in ihrer großen Mehrheit viel näher, als die politisch polarisierenden Lagerbildungen zum Ausdruck bringen. Und sie sind zugleich in sich selbst viel zu differenziert, ja zerrissen, um größere gesellschaftliche Vorhaben ohne öffentliche Auseinandersetzung und Verständigung zu ihren eigenen zu machen und in Angriff nehmen zu können. Deshalb stößt sie beides, Kumpanei hinter den Kulissen und lautstarkes Aufeinanderdreschen, ab.
Eine Gesellschaft, die durch Gleichheitsvorstellungen und Differenzierung geprägt ist und bis in den Alltag hinein in ihrem Funktionieren auf mannigfache laufende Verständigungs- statt prinzipielle Polarisierungsprozesse angewiesen ist, braucht eine entsprechend offene und bewegliche politische Repräsentation, um Wege der Reform zu eröffnen. Auch wenn die bundesrepublikanische Gesellschaft (wie die französische und andere europäische Gesellschaften) ihren Einstellungen nach eher links geworden ist, kann sie wegen ihrer Komplexität und Zerbrechlichkeit nur in der Mitte zusammengehalten und von dort aus mobilisiert werden. Mitte ist dabei nicht als momentane Verklumpung zersplitterter Gesellschaftspartikel in einem magnetischen Feld zwischen zwei attraktiven Polen zu verstehen, sondern als Wirbel, der in dem Maße Kraft gewinnt oder verliert, wie er immer größere oder geringere Teile der Gesellschaft umfaßt.
Das ist auch nur eine Metapher, aber immerhin eine, die der neuen gesellschaftlichen Realität verallgemeinerter Lohnabhängigkeit näher kommt als die langlebigen Abziehbilder früherer Gesellschaftsformationen. Die politische Klasse unterläuft nur das polare Erbe der Weimarer Republik durch Kumpanei. Es ist aber verbraucht.
Die Mehrheit ist eher links, aber die Linke ist als solche nicht regierungsfähig. Mit diesem Paradox ist umzugehen.
Ein beweglicher Kopf wie Heiner Geißler, der um die schwache Basis und verfehlte Selbstdeutungen des Regierungslagers weiß, versucht sich der Mitte zu nähern und bekommt von seiner Partei weniger Schläge als Grüne und Linke von ihrer Seite, wenn sie es ebenfalls versuchen. Denn hier herrscht immer noch die Maxime, auf die Mitte einzuschlagen, wenn die Linke nicht weiterweiß. „Die Nazis kommen nicht vom Rand, sondern aus der Mitte des deutschen Volkes.“ Der Originalist Wiglaf Droste plappert nur daher wie viele andere Linke auch. Ist damit die Tiefe der deutschen Volksseele gemeint und nur anders gewertet, was die Nazis selber meinen? Oder ist die Mitte der bundesrepublikanischen Gesellschaft gemeint? Dann ist es eine Binsenweisheit. In einer Gesellschaft mit soviel Mitte kommt alles irgendwie aus der Mitte.
Sind die Parteien der Mitte gemeint, also alle im Bundestag, dann ist es offenbar Blödsinn. Oder soll gesagt werden, daß die bundesrepublikanische Gesellschaft selbst im großen und ganzen nazistisch ist? „Viel weiter nach rechts geht es nun nicht mehr“, dekretiert der linke Originalist. „Extremismus der Mitte“ ist die wissenschaftliche Rechtfertigung für diese Lebenslüge einer Linken, die sich in der Mitte wie ein Fisch im Wasser bewegen könnte, wenn sie zur politischen Abrüstung bereit wäre und begriffe, daß ihre Werte fast schon Gemeingut einer Gesellschaft sind, die dennoch politisch weitgehend gelähmt bleibt. Warum? Hier liegt das Problem. Die Leute haben mehr Gespür dafür als die Gespenster. Wundern kann das nur – die Gespenster. Joscha Schmierer
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen