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Die Nacht der verlorenen Wetten

Ein klares Nein beraubt die französischen SozialistInnen ihres einzigen aussichtsreichen Präsidentschaftskandidaten / Jacques Delors will die Franzosen nicht belügen  ■ Aus Paris Dorothea Hahn

Ganz Frankreich hatte sich in den letzten Tagen in der Frage kandidierteroderkandidierternicht heißspekuliert. Die Wetteinsätze für „ja“ und „nein“ hielten sich die Waage. Doch daß Jacques Delors die ihm angetragene Präsidentschaftskandidatur aus politischen Gründen ablehnen würde, zumal zu einem Zeitpunkt, da er unangefochten sämtliche Meinungsumfragen anführte, das konnten sich nur ganz wenige vorstellen. Eher schon persönliche Motive – Delors hohes Alter, die Aversion seiner Gattin gegen den Posten der First Lady, die Karrierepläne seiner 44jährigen Tochter in der Politik ...

Doch Delors argumentierte vor allem politisch. Der Wunschkandidat der SozialistInnen sagte am Sonntag abend im französischen Fernsehen, „ich habe entschieden, nicht für die Präsidentschaft zu kandidieren“, und erklärte, daß er keine Mehrheit sehe, mit der er sein politisches Projekt durchsetzen könne. Mit seiner Antwort handelte er sich Beifall auf allen Seiten ein. Besonders euphorisch waren die Respektbekundungen aus dem konservativen Lager, das nach Delors' Ausscheiden ganz sicher sein kann, den künftigen Präsidenten der Republik zu stellen. Aus Delors eigener Partei kam zwar „Verständnis“ für die Entscheidung, doch mischen sich bereits kritische Untertöne unter die Reaktionen. Delors sehe die politischen Perspektiven der Sozialisten allzu pessimistisch, hieß es.

Ausgerechnet Bundeskanzler Helmut Kohl hatte schon am Freitag auf dem europäischen Gipfel in Essen angekündigt, Delors werde am Sonntagabend seine Entscheidung bekanntgeben. Entsprechend hoch war die Einschaltquote der Sendung „7 sur 7“ im ersten französischen Programm. Doch Delors spannte sein Publikum auf die Folter: Fast eine Stunde lang sprach er über Europa, über die Sozialdemokratie, über die Arbeitslosigkeit – dann kam das Nein.

Er begründete seine Ablehnung auf eine für ein Interview ungewöhnliche Weise. Er verlas eine vorformulierte Erklärung, in der es heißt, „die Entscheidung war nicht leicht zu treffen“. Er werde bald 70 Jahre alt, arbeite ohne Pause seit 50 Jahren, und unter diesen Bedingungen sei es vernünftig, einen Lebensweg einzuschlagen, der ausgeglichener zwischen „Überlegung und der Tat“ sei. Andererseits benötige Frankreich „grundlegende Reformen“ – vor allem eine Erneuerung seiner Demokratie, eine stärkere Beteiligung der Bürger und den Kampf gegen die Arbeitslosigkeit und die Verelendung. Nach langem Überlegen sei er aber zu dem Schluß gekommen, daß er dafür nicht die nötige politische Mehrheit habe: „Ich sage ganz offen, daß ich, nach meiner Wahl nicht dazu gezwungen sein möchte, mit einer Regierung zusammenzuarbeiten, die nicht meine Zielvorstellungen teilt.“

Und obwohl der scheidende Staatspräsident François Mitterrand diese „Kohabitation“ genannte Zusammenarbeit schon zum zweiten Mal praktiziert, sagte Delors, er hätte in so einem Fall „das Gefühl, die Franzosen belogen zu haben. Denn ich hätte ihnen ein Projekt vorgeschlagen, das ich nicht umsetzen könnte.“

Sofort nach Bekanntwerden von Delors' Verzicht, wurden die politischen Karten in Frankreich neu gemischt. Aus dem rechten Lager, das in den letzten Wochen vor einem Wahlsieg Delors gezittert hatte und deswegen krampfhaft um Einigkeit bemüht war, melden jetzt gleich mehrere Männer ihre Absichten an. Gegenwärtig ist mit fünf rechten Kandidaturen zu rechnen.

Der Chef der SozialistInnen, der monatelang auf Delors Ja gewartet hatte, reagierte verbissen. „Die sozialistische Partei existiert, hat existiert und wird existieren“, sagte Henri Emmanuelli am Sonntag abend. Allein einE andereR KandidatIn als Delors ist weit und breit nicht in Sicht. Bis Januar will die Partei nun ihre Wunden lecken, aber die Personaldiskussion hat längst begonnen.

Bislang im Handel: der frühere Kulturminister Lang, der Chef der Sozialistischen Internationale, Mauroy, die als ehemalige Arbeits- und Sozialministerin bekannte Delors-Tochter Aubry und Parteichef Emmanuelli selbst. Niemand zweifelt daran, daß jedeR von ihnen zur Niederlage verdammt sein wird.

Kommentar Seite 10

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