Sanssouci: Nachschlag
■ Andrej Worons "Zug des Lazarus" im Teatr Kreatur
Am Großen Vaterländischen Bahnhof sind die Weichen auf Warten gestellt. Die Reisenden haben den Anschluß verpaßt, überall ist es besser, wo sie nicht sind. Nur in der Erinnerung geht es noch voran, doch mit welchen Zielen! Juden werden in Viehwaggons ins Todeslager transportiert, ein Jubelzug feiert den Sieg der sowjetischen Armee, eine einbrüstige Schaufensterpuppe mit Flügeln und einer Sense hält Wache, zu ihren Füßen steht: Memento mori. In seiner fünften Inszenierung mit dem Kreaturentheater legt Andrej Woron ein neutestamentarisches Motiv über die (osteuropäische) Leidensgeschichte des 20. Jahrhunderts: Lazarus, die Trostfigur der Kranken bei Lukas, der Toten bei Johannes. In Gott sterben heißt leben. Aber wer weiß, wo Gott wohnt? Das Grüppchen am Vaterländischen Bahnhof nicht. Die Zeiten sind schlecht, die Uhren laufen rückwärts: der Kriegsinvalide krabbelt von seinem Denkmalspodest herunter, als Gast der Vergangenheit gesellt sich ein rotuniformierter SS- Mann zur Gruppe, und auch das klassische Erbe hat abgewirtschaftet: Banalitäten von Tschechow oder Tolstoi werden zitiert – eine Oper der Vergeblichkeit, Libretto: Rüdiger Schaper.
Wer die Mimen des Kreaturentheaters liebt, Worons skurrile Apparate und Janusz Stoklosas Sehnsuchtsmusik, wird all das wiederfinden und das Theater am Ufer nach 70 Minuten trotzdem seltsam leer verlassen. Denn gezeigt werden sollen Himmel und Hölle politischer Hoffnung. Aber intellektuelle Verweise ersetzen eine Fabel und ersticken die Ästhetik. Die Kraft fehlt diesmal. Und der Zauber. Dafür gibt's reichlich Moral. „Wer ist schuld an dem Dilemma“, fragen sich die Wartenden lange und häufig. Und stellen schließlich fest: Alle zusammen. Ach! Nur einmal funktioniert die Woronsche Puppenwelt. Da drehen sich die Ausgesetzten paarweise in einem Birkenwäldchen. Dzidek Starczynowski als Maurer mit 6.875 Prozent Planerfüllung ergreift die Pionierin Awrora, gespielt von Susan Raymond. Sie vergißt ihre Trompete, er die Ziegelsteine auf seinem Rücken, und für einen seligen Moment steht die Zeit still. In Sentiment, Kitsch oder Groteske leben die Kreaturen, in der Politrevue kränkeln sie bloß. Am Ende erscheint Lazarus: ein kindlicher Lokführer. Und alle machen „tschuktschuk“, bilden eine Polonaise und hoppeln hinter ihm her. Die Weichen sind auf Warten gestellt – warten wir auf die nächste Produktion. Petra Kohse
Susanna Capurso, Danuta Kisiel Foto: David Baltzer
Wieder am 15.–18., 22./23. 12. sowie ab 5. 1. Do.–So., 19.30 Uhr, Theater am Ufer, Tempelhofer Ufer 10, Kreuzberg.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen