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Mehr Mauer-Schein als Sein

Im Gegensatz zur Mauerkunst West wird die East Side Gallery als Erinnerungsstück verhätschelt / Holzüberdachung soll vor Witterung schützen  ■ Von Detlef Kuhlbrodt

1994 war ein Drecksjahr. Komischerweise findet das fast jeder. Finanzielles Ungemach, aufgekündigte Freundschaften, Grind, Krätze und Depressionen waren an der Tagesordnung. Viele warfen sich vor die U- oder S-Bahn. Einige verbrannten sich auch wie Ulrich Baer, Leiter des Umweltamtes des Landkreises Riesa-Großenhain, um „ein Zeichen zu setzen für die Menschen und die Umwelt“.

Andere Scheußlichkeiten, die man eigentlich entschlossen war zu ignorieren, gingen weiter: Axel- „Sack“-Nawrocki treibt weiter sein Unwesen, und anstatt zu verschwinden, beharrt auch die sogenannte „East Side Gallery“ weiterhin auf ihrer jämmerlichen Existenz.

Zur Erinnerung: „Die längste Freiluftgalerie der Welt“ war 1990 als klassische Simulation entstanden. 118 mediokre Künstler aus 21 Ländern hatten 1,3 Mauerkilometer zwischen Kreuzberg und Friedrichshain mit Bildern verkunstet, auf denen pfiffig die Mächtigen verspottet („Titanic-Titel-Kopie“ Bruderkuß Honecker/Breschnew), Völkerverständigung, ein bißchen Frieden und ein Wegfall trennender Mauern gefordert wurde. Die Widerwärtigkeit der Bilder bestand nicht nur darin, daß sie an sich schon hundsmiserabel waren, sondern daß ihre kindlich- humanistischen Forderungen (à la die Mauer muß weg) suggerierten, sie seien vor dem Mauerfall entstanden. Als traditionelle „Kunst“ – mit Unterschrift, Rahmen und allem Scheiß – verrieten sie all das, was Mauerkunst in Berlin und anderswo lebendig machte: unorganisierte, anonyme Bemalung, bei der sich die Einzelbilder miteinander verknüpften, Vergänglichkeit (Graffiti machen sich nichts draus, daß sie übermalt werden) usw. Die Bilder der East Side Gallery (wenn ich das schon höre) verstanden sich nicht als soziale Alltags- sondern als Gallery- oder Kunst-Kunst.

Genau deshalb wurde der gefakete Kunstmüll unter Denkmalschutz gestellt, während man die anonymen, authentischen Mauerbilder-Zeitzeugnisse auf der Westseite im Lauf der Zeit verkaufte. Unter anderem an eine monegassische Millionärsgattin, die meinte, der Anblick der Mauerteile würde sie von ihren Depressionen heilen.

Nicht genug: Ehe „das Erinnerungsstück“ (an was soll's denn, bitte schön, erinnern???) gänzlich zum „Schandfleck verkomme“ (dpa), soll eine Holzüberdachung die Bilder vor Regen und Schnee schützen.

Die Überdachung solle ein „Signal für die Rettung“ der Idiotenbilder sein, erklärte Wolfgang Branoner, Staatssekretär der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung. Zwischen 25 und 30 Millionen Mark würden benötigt, „um die durch Umwelteinflüsse, aber auch mutwillige Zerstörung und Übermalungen beschädigte Bilderwand zu restaurieren“ (dpa). Branoner will prüfen, ob EU-Mittel für die Restaurierung beansprucht werden können. Möglicherweise fallen auch Teile der Mauer in die Zuständigkeit des Bundes.

„Branoner schöpft neue Hoffnung für die ,Gallery‘“, hieß es am Mittwoch in der Berliner Zeitung. Und „wenn ich meine Weihnachtsgebete halte, schließe ich die Berliner Zeitung mit ein“. Denn die kämpft – Seite an Seite mit dem Radiosender „B2“ – für den Erhalt des ultrapeinlichen „Stücks Berliner Geschichte“.

Irgendwie reißen einen solche Meldungen dann doch aus der allgemeinen Winterdepression, und man freut sich: zum einen darüber, daß aufgeweckte Kulturarbeiter die peinlichen Zeugnisse selbstzufriedener Kunstregression inzwischen mutig zerstören und übermalen, zum anderen über den irgendwie schon luziden Schwachsinn von Berliner Zeitung, B2 und irgendwelchen dahergelaufenen Denkmalschützern, die sich nicht entblöden, Geld für die Erhaltung der sogenannten East Side Gallery zu fordern.

Nur einer zumindest zeigte sich vernünftig. „Wir sollten die East Side Gallery in Frieden sterben lassen“, sagte Landeskonservator Helmut Engel der Berliner Morgenpost. Meine Forderung dagegen zielt eher auf Totschlag: Reißt die Mauer ab!

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