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Der „Dissident“ von Kirjat Arba

In der jüdischen Siedlung in Hebron klagt plötzlich einer Menschenrechtsverletzungen an / Palästinenser und Siedler wollen gemeinsam diskutieren, wie man die Stadt befrieden könnte.  ■ Aus Kirjat Arba Julia Albrecht

Vietnamkämpfer, Libanonkrieger, gläubiger Jude, Ex-Reserveoffizier der israelischen Armee, Siedler in Kirjat Arba, das sind einige der wesentlichen biografischen Daten von David Ramati. Seit über 20 Jahren ist er Bewohner der radikalsten Siedlung in der von den Israelis seit 28 Jahren besetzten Westbank. Damit auch Rechtsverletzter. Nicht zwar nach langjähriger Regierungsdoktrin Israels, wohl aber nach internationalem Recht. Die Genfer Konvention verbietet die Besiedlung von okkupierten Landteilen. Israel förderte den Siedlungsbau. Milliarden und Abermilliarden flossen in jene burgähnlichen Wohnanlagen an den Hängen und Hügeln des Westjordanlandes. Kirjat Arba ist eine von ihnen. Hier leben rund 6.000 Menschen, offiziell siedeln rund 120.000 Israelis in den besetzten Gebieten, der Westbank und dem Gaza-Streifen.

Hinter Draht, mit nächtlicher Neonbeleuchtung wie zur Sicherung von Grenzen zwischen feindlichen Staaten, Todesstreifenbeleuchtung. Israelische Soldaten bewachen den Eingang. Passieren dürfen Bewohner und Besucher, sofern sie angemeldet sind. Und sofern sie keine Araber sind. David Ramati: „Mein Freund Mohamed würde nicht hereingelassen werden, selbst wenn ich ihn einladen würde.“ Mohamed El Schamas, den Palästinenser aus Hebron, wo sich die Siedler in ihren Drahtverhauen niedergelassen haben, als „Freund“ zu bezeichnen, ist Programm. Ob beide tatsächlich freundschaftliche Gefühle verbindet, ist nicht ganz klar. Die Berührungen, die Mohamad El Schamas Ramati zu Gute kommen läßt, lassen darauf schließen, auch die Tatsache, daß Ramati, der Siedler, sich in dessen Wohnung begibt, mitten in Hebron, einer Stadt mit rund 100.000 Palästinensern, unter denen die Siedler nicht nur nicht gelitten, sondern zutiefst verhaßt sind.

Jetzt sitzen sie nebeneinander in El Schamas Wohnzimmer und haben, Freundschaft hin oder her, zumindest ein gemeinsames Interesse. „In Hebron muß vor allem und an erster Stelle ein Ende der Gewalt einsetzen.“ Sie wollen eine Gruppe, eine Art Runden Tisch ins Leben rufen, an dem Siedler und Palästinenser aus Hebron zusammen darüber nachdenken, wie man die Stadt befrieden könnte. David Ramati ist bislang der einzige Siedler, der zu solchen Gesprächen bereit ist. Auf palästinensischer Seite haben sich immerhin schon mehrere Personen gefunden.

Und sie wollen sich zunächst nicht mit politischen Fragen beschäftigen, diese sogar ausklammern. Beide Seiten wissen, daß die politischen Gegensätze augenblicklich weitere Gespräche verunmöglichen würden. Wäre David Ramati bereit, auch unter palästinensischer Autorität in Hebron zu leben? Kann Mohamed El Schamas akzeptieren, wenn Ramati sagt, die Juden haben das Recht, überall im Heiligen Land zu siedeln? Würde Ramati seine Enkelkinder in eine palästinensische Schule schicken? Würde Schamas seine Kinder auffordern, mit jüdischen Kindern zu spielen?

Mohamed El Schamas' 13jähriger Sohn Ismael wurde von israelischen Soldaten durch Schüsse schwerverletzt und liegt seit Monaten und nach mehreren Operationen im Krankenhaus. Und David Ramati hat zwar nicht jene Soldaten, deren Opfer Ismael wurde, aber andere, die gleiches taten, namentlich bekannt gemacht. Wann immer er Rechtsverletzungen mit eigenen Augen wahrnimmt, schweigt er nicht länger. Seit ein paar Monaten berichtet er an die israelischen Menschenrechtsorganisation B'etselem.

In den Augen der anderen Siedler wird er damit zu einem Dissidenten. Weil er sie und seine „Kollegen“ von der Armee verrät. Dabei ist Ramatis Ziel schlicht. Ihm geht es um nicht mehr, als die Wahrung von Menschenrechten.

Die großen politischen Fragen werden also ausgeklammert, auch wenn beide wissen, daß PLO-Chef Jassir Arafat und der israelische Ministerpräsident Jitzhak Rabin im Augenblick miteinander um wegweisende Entscheidungen ringen. Die Israelis wollen den Abzug ihres Militärs aus den bewohnten Gebieten der Westbank hinauszögern. Ein solcher Abzug ist aber laut dem zwischen PLO und Israel getroffenen Osloer Abkommen Voraussetzung dafür, daß in den Gebieten „freie, gleiche und geheime Wahlen“ stattfinden können. Bei all dem geht es auch um die Zukunft der Siedler.

Aus Kirjat Arba stammt Baruch Goldstein, jener Arzt und gläubige Jude, der im vergangenen Februar in der Moschee in Hebron 27 Palästinenser erschoß — und schließlich erschlagen wurde. David Ramati: „Für mich war das Massaker ein Wendepunkt.“ Und nicht nur für ihn. Kürzlich hat ein anderer Bewohner Kirjat Arbas den geballten Haß seiner Mitbewohner auf sich gezogen. Aharon Domb, der vier Jahre dem inneren Zirkel der Siedlungsleitung angehörte und die rechte Hand des Bürgermeisters von Kirjat Arba war, sagte öffentlich nur dieses: „Kirjat Arba ist fruchtbarer Boden für gefährliche Elemente.“ Anlaß war die Goldstein-Geschichtsklitterung. Die Schulverwaltung von Kirjat Arba gab ihren Lehrern auf, die Kinder zu veranlassen, Sätze über die „heilige Natur“ und das „selbstlose Handeln“ des Mörders Baruch Goldstein zu verfassen. Andere Gruppen von religiösen Schülern werden zu Goldsteins Grab geführt, wo sie Psalme in seinem Gedenken rezitieren. Aber es gab auch Dutzende von Kirjat-Arba-Bewohnern, sagt Aharon Domb, die ihn in der Folge angerufen und ihm gratuliert hätten. Das aber ist keine oppositionelle Gruppe. Kirjat Arba ist berüchtigt für die starke Vertretung von Kach- und Kahane-Anhängern, jener ultraradikalen jüdischen Bewegungen, die immer wieder gewalttätige Akte gegen Palästinenser geplant und durchgeführt haben. Davon merkt man nichts, wenn man durch die Siedlung läuft: Viergeschossige Festungshäuser, die sich von Jerusalemer Stadtvierteln nicht weiter unterscheiden, Straßen, ein wenig Grün. Kein Restaurant, keine Bar, keine Disko, nichts, was städtisches Leben auszeichnet. „Früher“, sagt Ramati, „konnte ich meine Kinder nach Hebron schicken, damit sie dort etwas einkaufen.“ Heute verlassen nicht einmal mehr Erwachsene unbewaffnet die Festung.

Die meisten Bewohner Kirjat Arbas teilen die humanistischen Bestrebungen Davids Ramatis nicht. Ihnen geht es darum zu bleiben — um fast jeden Preis. „Die Grenze ist der Einsatz von Waffen“, sagt Eliakim Haetzni. Seine Stimme ist Mehrheitsstimme. Jahrelang hatte er einen Sitz in der Stadtverwaltung inne. Und er ist Mitbegründer der Siedlung in Hebron. Zusammen mit einigen anderen mietete er sich vor fast 27 Jahren zu Passah, dem höchsten jüdischen Fest, das an den Auszug der Kinder Israels aus Ägypten erinnert, in Hebron ein. Seither hat er die Stadt nicht mehr verlassen.

Ebenso wie Ramati ist auch Haetzni aktiv. Anders als jener organisiert er jedoch den Widerstand für den Tag X. „Sollte das israelische Militär kommen, um uns hier wegzuschaffen, wird es ihm nicht gelingen.“

Er rechnet mit Hunderttausenden, die zur Hilfe eilen würden, um sich einer solchen Politik entgegenzustellen. Schon jetzt haben sie Telefonketten organisiert. In Windeseile könnten so Tausende im Kernland Israels und in anderen Siedlungen auf die Beine gebracht werden. Und Haetzni ist ganz optimistisch, daß sie kämen, um den Ort der biblischen Urväter und -mütter, von Abraham, Sarah, Isaak zu verteidigen. „Wir können diesen Ort nicht aufgeben“, sagt er. Hebron stehe in einer Linie mit Nablus und Jerusalem. „Dann könnten wir gleich Jerusalem aufgeben.“

Das sind die altbekannten Auffassungen der national-religiösen Siedler. Und es ist ihnen ernst damit. Von der Regierung Rabins, von dessen Friedensversuch, fühlen sie sich nicht nur im Stich gelassen – Rabin halten sie für eine Verbrecher. Eliakim Haetzni: „Es gab Zeiten, da hat man den Tatbestand ,Verbrechen gegen die Menschlichkeit‘ geschaffen. Für Rabin und seine Leute wird man den Tatbestand ,Friedensverbrecher‘ schaffen.“ Wenn er über das Unglück spricht, daß die Regierung über ihn und die Seinen gebracht hat, wird seine Stimme schrill. Er klagt an. Die Entlassungen von bisher 8.000 Palästinensern aus den Gefängnissen. Die Erlaubnis, palästinensische Polizei im Gaza-Streifen und Jericho zu etablieren. Und er vergleicht. Rabin mit Pétain und Arafat mit Hitler. „Sie werden gerichtet werden für die Toten, die im Namen des Friedens ermordet wurden.“

Früher hatte auch er die Vision eines friedlichen Miteinanders zwischen Palästinensern und Israelis. Demnach hätte Israel sofort nach dem Sechs-Tage-Krieg 1967 die gesamte Westbank und den Gaza- Streifen annektieren sollen. Die Palästinenser hätten ihre Gemeinden selbst verwalten dürfen. Nationales Wahlrecht allerdings und Staatsangehörigkeit hätte man ihnen verwehren sollen. „Sie können ja in Jordanien wählen. Sie haben ja die jordanische Staatsangehörigkeit.“ Heute glaubt er nicht mehr an einen friedlichen Ausgang. Aber wenn er vor dem Allmächtigen steht, so glaubt er, „dann wird jene Waagschale, auf der mein Engagement für Hebron liegen wird, all meine anderen Sünden aufwiegen.“

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