: Meine Mutter mein Kind
■ Am 1. Januar tritt das neue Pflegeversicherungsgesetz in kraft, das die häusliche Pflege favorisiert. Aber an der Gewissensfrage wird es nichts ändern: Was tun, wenn ein Elternteil zum Pflegefall wird? Betreuung...
Am 1. Januar tritt das neue Pflegeversicherungsgesetz in kraft, das die häusliche Pflege favorisiert. Aber an der Gewissensfrage wird es nichts ändern: Was tun, wenn ein Elternteil zum Pflegefall wird? Betreuung zu Hause oder Pflegeheim?
Meine Mutter mein Kind
Das wichtigste sei die innere Freiheit, sagt Monika Neujahr. Die innere Freiheit, doch noch nein sagen zu können. „Ich kann mich jeden Tag dagegen entscheiden, meine Mutter weiter zu Hause zu pflegen, wenn es mir zuviel wird.“ Aber bisher blieb sie bei ihrem Entschluß, ihre Alzheimer-kranke Mutter zu sich zu nehmen. Die alte Dame liegt in der kleinen Dreizimmerwohnung in Berlin-Wilmersdorf, umsorgt von Tochter, Enkelin und ambulanten Hilfskräften. Seit fünf Jahren.
Lebenssituationen wie bei den Neujahrs werden von den Bundesministerien propagiert. Denn vom 1. Januar an gilt die Pflegeversicherung mit dem Ziel, möglichst viele Kranke zu Hause betreuen zu lassen. 70 Prozent der Pflegebedürftigen leben jetzt schon zu Hause, laut einer Studie des Familienministeriums. Zumeist sind es Ehefrauen oder Töchter, die Kranke versorgen. Ehemänner und Söhne treten nur selten als Hauptpflegepersonen in Erscheinung.
„Ich hatte ein gutes Verhältnis zu meiner Mutter“, erzählt Monika Neujahr, „wer schlechte Erinnerungen hat, der wird Aggressionen bekommen, wenn er Mutter oder Vater auch noch im Alter pflegen muß.“ Aber auch sie quälte sich monatelang mit der Entscheidung herum: Pflegeheim für die Mutter oder ein völlig verändertes Leben für sich selbst? Ihre Mutter war geistig verwirrt und hilflos in einem tristen Mehrbettzimmer der Altenpsychiatrie gelandet. „Ich hab' damals nur gedacht: ein Heim hat sie nicht verdient“, erzählt die agile 43jährige.
Sie räumte ihr Zimmer für die Kranke frei und schläft jetzt im Wohnzimmer. Die gelernte medizinisch-technische Assistentin gründete mit anderen Betroffenen die Alzheimer-Gesellschaft in Berlin und gab ihren Vollzeitjob auf. Heute arbeitet sie auf halber Stelle in einer Beratungsstelle für die Rehabilitation alter Menschen. Und berät Angehörige, die in ähnlicher Situation sind wie sie damals.
Will ich es, oder fühle ich mich nur verpflichtet?
„Die Angehörigen müssen sich fragen: Will ich diesem kranken Menschen etwas wiedergeben? Oder fühle ich mich vielleicht nur verpflichtet, weil es die Umwelt von mir erwartet?“, gibt Neujahr zu bedenken. Denn Pflege wider Willen kann auch zu unerträglichen Situationen führen. Der Altersforscher Frieder Lang weist in einer Studie des Berliner Max- Planck-Instituts darauf hin, daß eine Übersiedlung hilfsbedürftiger Eltern ins Altersheim unter Umständen sogar „die Beziehung zu den erwachsenen Kindern verbessern kann, wenn Eltern diesen Schritt wählen, um ihren Kindern nicht zur Last zu fallen“. Auch Monika Neujahr würde ihrerseits später mal das Leben ihrer Tochter Nicole nicht einschränken wollen. „Wir haben schon ausgemacht, daß sie mich im Pflegefall nicht zu sich nehmen soll.“
Ihre alte Mutter aber ist für sie längst „wie ein Baby“ geworden. Sie spricht die alte Dame mit dem Vornamen an, manchmal sogar mit dem Kosenamen, auf den die Mutter als Kind hörte: „Irmchen“. Denn „Mutti“ versteht Irmgard Neujahr nicht mehr. Rund um die Uhr liegt die Kranke auf einer elektrisch betriebenen speziellen Luftmatratze. Die verhindert die gefürchteten Liegegeschwüre. Sie gibt nur noch den endlosen leisen Singsang von sich, der typisch ist für Altersdemente im späten Stadium.
Morgens um sechs beginnt der Pflegetag. Monika Neujahr lagert die Mutter, flößt ihr Blasentee ein. Dreimal am Tag wird die Kranke gefüttert. Eine Mahlzeit kann eine Stunde dauern. Wenn die Pflegekräfte morgens kommen, geht die Tochter aus dem Haus und kommt am Mittag wieder. Abends wird die Kranke manchmal von Kommilitonen der Enkelin Nicole betreut, die auch in der Wohnung lebt. Viermal im Jahr reist die Schwester an und hilft, dann kann Monika Neujahr in den langersehnten Urlaub fahren. Am Wochenende, wenn ihr manchmal die Decke auf den Kopf fällt, spüre sie schon auch mal Aggressionen auf die Kranke. „Meine Mutter dominiert mein Leben total. Aber wenn ich dann außer Haus bin, denke ich, hoffentlich ist alles in Ordnung!“
Die Pflegeversicherung wird einiges verändern
Bis zu 2.000 Mark im Monat muß Monika Neujahr für ihre ambulanten Hilfskräfte zahlen. Aufgrund der Berliner Regelung erhält sie 1.600 Mark Pflegegeld im Monat. Hinzu kommt die Rente der Mutter. Zwar gibt es auch in Berlin Krankenheime mit gutem Ruf, aber die Wartezeiten sind beträchtlich. Und ein Heimaufenthalt würde zwischen 5.000 und 10.000 Mark kosten.
„Für manche Angehörige ist es auch eine Frage des Geldes, ob sie einen Pflegebedürftigen in ein Heim geben“, erklärt Ingrid Fuhrmann von der „Selbsthilfegruppe der Angehörigen Demenzkranker“ in Berlin. In der Regel sind die Kosten für das Pflegeheim höher als die Rente. Das Sozialamt springt zwar ein, hält sich aber gleichzeitig an das Vermögen der Betroffenen. Ein, zwei Jahre Pflegeheim können so das den Kindern zugedachte Erbe aufzehren. Verdienen die Kinder überdurchschnittlich oder verfügen sie über ein großes Vermögen, werden auch sie noch zum Unterhalt herangezogen.
Die Pflegeversicherung wird daran einiges ändern. Vom 1.Januar an werden Beiträge eingezogen, von April 1995 an gibt es die ersten Leistungen für ambulante Pflege. Bei Schwerstpflegebedürftigen können Angehörige dann bis zu 1.300 Mark im Monat für die eigene Leistung („Laienpflege“) oder bis zu 3.750 Mark für professionelle Hilfe geltend machen. Auch eine Kombination beider Leistungen (keine Addition!) ist möglich.
Aber ob das Geld für die „Laienpflege“ Angehörige motiviert, wird von Experten bezweifelt. Kritiker befürchten gar, daß die Zuschüsse für die stationäre Pflege Heimaufenthalte populärer machen könnten. Von Juli 1996 an erhalten stationär Betreute nämlich einen Zuschuß bis zu 3.300 Mark monatlich. Wenn dann noch eine hohe Rente oder Beamtenpension hinzukommt, muß das Vermögen bei einem Heimaufenthalt nicht mehr angetastet werden. Von der Pflegeversicherung würden dann vor allem die Gutbetuchten profitieren.
Die sorgen häufig schon jetzt beizeiten vor. „In der Regel kommen die Bewohner so in den 70ern zu uns, wenn sie noch fit und rüstig sind“, berichtet Dieter Liepold, Sprecher der Stiftung Collegium Augustinuum. Seit 20 Jahren betreibt die Stiftung gehobene Wohnanlagen für Senioren. Ähnlich wie bei dem Träger Kursana Residenzen finden die alten Leute hier, betreut von „Etagendamen“, einen Rundumservice vom Mittagsmenü bis zum Schwimmbad im Haus. Und vor allem die Sicherheit, im Pflegefall im einmal gewählten Apartment bis zum Tod betreut zu werden. Das Risiko ist vom Augustinuum zu tragen: nur jeder fünfte der über 80jährigen wird laut Statistik zum längerfristigen Pflegefall.
Wo die Führungskräfte gemeinsam altern
Die Sicherheit im gehobenen Wohnstift kostet natürlich: ein Seniorenehepaar, das in eine Dreizimmerwohnung zieht, zahlt monatlich 6.300 Mark in München- Neufriedenheim (Augustinuum) oder 6.400 Mark in Wedel (Kursana). Einzimmerapartments für eine Person sind billiger, beispielsweise im Augustinuum in Kassel schon für 1.750 Mark monatlich zu haben. Im Pflegefall kommen weitere Kosten hinzu. Im Collegium Augustinuum müssen die Bewohner auch noch Wohndarlehen entrichten.
„Wir haben Wartezeiten zwischen einem Jahr und zehn Jahren“, berichtet Liepold. Der Trend gehe zu größeren Wohnungen, die von den Zuzüglern selbst eingerichtet werden. Mitunter treffen sich in den Wohnstiften dann alte Kollegen aus den Führungsetagen deutscher Konzerne wieder, zur gemeinsamen Morgengymnastik in selbstbezahlter Altersgeborgenheit. Barbara Dribbusch
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