: Aufschwung Fernost – ein Sicherheitsrisiko
■ Die Brände in China in den letzten Wochen sind kein Zufall: Die rasche Industrialisierung führt zu Sicherheitsmängeln mit immer mehr Todesopfern
Berlin (taz) – Immer wieder brennt es in China, und oft erst spät erfährt die Öffentlichkeit davon. Mit einem Monat Verspätung berichtete das Kohleministerium am vergangenen Donnerstag über die Explosion in einer Kohlegrube in Liaoyuan in der nordostchinesischen Provinz Jilin am 13. November, bei der 80 Menschen ums Leben gekommen waren und 128 verletzt wurden. Der Brand in einem Nachtclub in Qiqihar im Nordosten Chinas lag schon fünf Tage zurück, als die Behörden am vergangenen Mittwoch die Presse informierten. 17 Menschen waren ums Leben gekommen. Nur zwei Tage vorher, am 8. Dezember, hatte es im Freundschaftskino in Karmay in der Provinz Xinjiang gebrannt. 325 Menschen wurden getötet, die meisten der Opfer waren Kinder. Inzwischen sind insgesamt 19 Personen festgenommen oder strafversetzt worden, die von den Behörden für den Brand verantwortlich gemacht werden.
Konsequente Verfolgung der Fahrlässigkeit? Wohl nicht. Denn die jüngsten Unfälle waren keine Ausnahmen. Vor knapp zwei Wochen tötete ein Feuer in einer Discothek in der nordwestlichen Stadt Fuxin 233 Menschen. Vor einem Jahr kamen über 140 Arbeiter bei Bränden in zwei ausländischen Fabriken ums Leben – in der südlichen Küstenregion, der Hauptregion des Wirtschaftsbooms. Im August 1993 tötete eine Explosion und ein 16stündiges Feuer in Shenzhen 15 Menschen und verletzte 150 weitere. Shenzhen ist ein Industriegebiet nahe der Grenze zu Hongkong.
Selbst die offiziellen Statistiken weisen für 1993 fast 20.000 tödliche Arbeitsunfälle aus, ein Zuwachs von 33 Prozent gegenüber 1992. Eine kürzliche Überprüfung von 137.000 staatlichen und ausländischen Firmen stellte eklatante Sicherheitsmängel fest.
Wie die Behörden jetzt zugeben, ist es vor allem Chinas rasend schnelle Industrialisierung und die Jagd nach schnellen Profiten, die die Rücksicht auf Sicherheitsvorkehrungen hintanstehen lassen. Da werden Fabrikfenster oder Notausgänge verrammelt und Arbeitsplatz, Wohnraum und Lagerraum in sogenannten Drei-in-einem-Gebäuden zusammengefaßt. Lokalen Behörden sind die Investitionen wichtiger als die Sicherheit, und die schlechtbezahlten Sicherheitsinspektoren drücken die Augen zu – oft gegen eine kleine Zuwendung.
Aber das Problem liegt noch tiefer. China wird oft von Naturkatastrophen heimgesucht – und so gilt es allgemein als ausgemacht, daß Sicherheit offensichtlich außerhalb der menschlichen Einflußnahme liege. Hinzu kommt, daß Chinas vorwiegend ländliche Bevölkerung wenig Erfahrung mit städtischen Sicherheitskonzepten hat. Aber es sind genau diese Bauern, schon 100 Millionen allein in diesem Jahr, die in die Küstenregionen drängen, um dort Arbeit in der Industrie zu finden. Unfallverhinderungsmaßnahmen und Sicherheitsaufklärung sind hier dringend notwendig.
Schon beleuchten neue Großprojekte das Dilemma, Sicherheit mit schnellem wirtschaftlichen Wachstum zu vereinbaren: Insgesamt gibt es bislang gerade einmal 600 Kilometer Autobahn in China. 3.000 Kilometer aber sollen bis zur Jahrtausendwende fertiggestellt werden. Ein rasantes Tempo – das die Sicherheit wiederum hintanstehen läßt. Hugh Willamson
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