: Schweden muß AKWs abschalten
■ Schwere Konstruktionsfehler nur per Zufall entdeckt / Seit 20 Jahren Ventile von Konstruktionsfirma falsch eingestellt
Stockholm (taz) – Die schwedische Kernkraftinspektion hat die sofortige Abschaltung von vier der zwölf Atomreaktoren des Landes angeordnet. Durch einen Zufall war entdeckt worden, daß alle Sicherheitsventile im Dampf- und Kühlkreislauf falsch eingestellt waren – seit Inbetriebnahme vor 20 Jahren. Die Ventile, die sich bei zu hohem Druck öffnen sollen, waren auf ein viel zu hohes Druckniveau eingestellt. Die Folge: Überhöhter Druck hätte statt zu einem Öffnen der Ventile zum Platzen von Rohrleitungen oder zum Totalausfall von Pumpen führen können.
Letzteres war am 3. Oktober im AKW Ringhals geschehen. Zweieinhalb Monate dauerte es, bis die Reaktortechniker die Ursache gefunden hatten: die falsch eingestellten Ventile. Die Einstellung hatten die US-Konstruktionsfirma Westinghouse und der Ventillieferant, die US-Firma Hopkins, vorgenommen. Sie lief den Bauanweisungen und Sicherheitsvorschriften zuwider, ohne daß das jemals nachgeprüft wurde. Nur der Zufall führte zur Aufdeckung des Fehlers.
Schon 1992 stand das AKW Barsebäck wegen einer Verstopfung des Kühlsystems durch losgerissenes Isolationsmaterial 20 Minuten vor einer Kernschmelze. Auch damals war es nur der Zufall, der zur Entdeckung dieses auf Konstruktionsmängeln beruhenden Fehlers geführt hatte. Die Hälfte aller schwedischen AKWs war davon betroffen und mußte monatelang abgestellt werden.
Welche Unfallfolgen aufgrund der fehlerhaften Ventile vorstellbar waren, darüber wollte sich Lennart Hamar, der Reaktorsicherheitschef der SKI, nicht äußern: „Jetzt noch nicht, wir müssen erst noch analysieren.“ Der Chef des Ringhals-AKWs, Håkan Johansson, hält die Sache „für gar nicht gut. Wir studieren von Grund auf, wie diese alten Anlagen wirklich konstruiert sind, nicht nur, wie es in den Plänen behauptet wird.“
Unabhängige AKW-Experten heben hervor, daß durch falsch eingestellte Ventile vor allem im Zusammenhang mit fortschreitender Materialermüdung eine schwere Katastrophe hätte ausgelöst werden können: Entweder eine explosionsartige Zerstörung der Dampfdruckleitungen oder ein schlagartiger Ausfall des Kühlsystems. Die Konsequenzen wären unübersehbar, weil die üblichen Sicherheitsszenarien, auf die das Bedienungspersonal geschult werde, den Totalausfall aller Sicherheitsventile nicht vorsehen.
Die SKI hatte vor zwei Jahren ein großes Projekt gestartet und eine „systematische und minutiöse Analyse“ der Konstruktion aller schwedischen AKWs angekündigt. Daß nunmehr wieder nur der Zufall auf die Spur schwerer – und möglicherweise weltweit in allen Westinghouse-Konstruktionen vorhandener – Konstruktionsfehler geführt hat, ist für Oddbjörn Sandervåg von SKI ein „klarer Rückschlag in unserem Sicherheitsprogramm. Die Werke werden ja älter und älter, und offenbar müssen auch die Sicherheitsvorschriften grundsätzlich geändert werden. Außerdem wollen wir jetzt wirklich nochmals alle Konstruktionen von Grund auf überprüfen.“ Das hatte die Behörde schon nach der Beinahekatastrophe von Barsebäck angekündigt. Reinhard Wolff
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