piwik no script img

Verschiebung auf die Juden

■ Henryk M. Broder und David Witzthum beim Brückenschlag

In dem vorerst letzten Brückenschlag – einer Veranstaltungsreihe in den Hamburger Kammerspielen, die sich die Förderung des Dialoges zwischen Deutschen und Juden zum Ziel gesetzt hat –waren gestern vormittag Henryk M. Broder und der in Israel sehr bekannte Fernsehmoderator David Witzthum zu Gast. Beide Journalisten zeichneten übereinstimmend ein entspanntes Bild der Beziehung zwischen Deutschland und Israel.

Witzthum sieht den Staat Israel auf dem Weg zur Normalität. Im Zuge der Annäherung zwischen Palästinensern und Juden verliere die bisherige Staatsräson des Überlebenskampfes gegen eine arabische Übermacht schlagartig an Selbstverständlichkeit. Zugleich müsse man konstatieren, daß der Holocaust seine alltägliche mythische Kraft als Identitätsstifter des jüdischen Staates einbüße. In der bisherigen kollektiven Festung Israel vollziehe sich ein radikaler Wertewandel hin zu libertinären und individuellen Haltungen.

Broder stimmte dieser Analyse zu: „Israel wird normal, hedonistisch, konsumfreundlich, ein Mittelmeerstaat wie alle anderen auch.“ Es seien vielmehr die Deutschen selbst, die weiterhin rituell an Auschwitz fixiert blieben, und zwar allein aus pseudomoralischen Motiven: „Auschwitz ist ein unstrittiges und längst wohlfeiles Gebiet, um sich vor sich selbst und vor den anderen als guter Mensch darzustellen.“

Im Anschluß daran interessierte Broder die Frage, welche Form der Entlastung hier gesucht werde. Seiner Einschätzung nach findet eine ganz massive Verschiebung deutscher Probleme auf die Juden statt. Anstatt sich der anstehenden, aber mit Auseinandersetzungen behafteten Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit zu stellen, stürze man sich auf einen unstrittigen, risikofreien Antifaschismus. Aus der Tatsache, daß der Holocaust in Israel seine alltägliche Bedeutung verliere, dürfe man in Deutschland allerdings nicht die Legitimation ziehen, die Beschäftigung mit der Nazi-Vergangenheit einzustellen. Das wäre so, als müsse man sich an den Holocaust nur erinnern, weil es noch Juden gibt.

Broder kam auch auf Alfred Hrdlicka zu sprechen. Der österreichische Bildhauer hatte in einem offenen Brief Wolf Biermann „die Nürnberger Rassengesetze an den Hals“ gewünscht. Ausdrücklich bezeichnete Broder die Debatte um diese Beschimpfung als anachronistisch. Nur gebe es Anachronismen, die fortwirkten und die man deshalb – wie in diesem Fall – auch als Entgleisung darstellen müsse. Normalität dürfe nicht in die Aufweichung moralischer Standards münden. drk

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen