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Geschichten aus „Grimms Asoziale“

■ Malersaal: Uraufführung von Tankred Dorsts „Nach Jerusalem“ durch Matthias Hartmann

Tankred Dorst beliebt, Märchen zu erzählen. Und wenn er sich dabei in die Kinderwinkel seines Herzens zurückzieht, wie bei Dilldapp, dann erreicht die Sendung auch ihren Empfänger. Die Poesie macht's. Diese übertragen auf das Genre des Erwachsenenmärchens aber ergibt Skurrilität, die Suche nach den wunderlichen Gestalten aus den Hofbereichen des Lichtes. Und da wendet sich Freundlichkeit blitzschnell in Verharmlosung. So geschehen zuletzt bei Herr Paul und nun wieder bei der Uraufführung von Nach Jerusalem am Sonntag im Malersaal.

War Herr Paul das Wiedervereinigungsmärchen, so ist Nach Jerusalem das Gossenmärchen. Im Tiefparterre einer Hotelbaustelle treffen sich einige ramponierte Persönlichkeiten: die Pennerin Rose vom Bahnhof mit der roten Mütze, ihr farbefressender, schwachsinniger Freund Hänschen, der neugierige Frührentner Voss, Otto, eine wahnsinnige Mengele-Karikatur, der Obdachlosen-Philosoph Meteor und für einen kurzen Auftritt auch eine edele Dame auf der Suche nach ihrem verschwundenen Freund Jochen, dem Penner-Schlepper. Ticks, biographische Fetzen, Gleichgültigkeit und Phantastereien mischen sich in den Gesprächen der Keller-Gemeinde zu einer lau dahinplätschernden Kommunikation ohne magnetische Punkte oder Überraschungen.

Der Grund für diesen handwarmen Fluß unaufregender Dialoge liegt in der Unentschiedenheit des Autors. Zwischen Wirklichkeit und purer Fiktion sucht er einen Mittelweg, um etwas Gutes zu retten, das aber vielleicht gar nicht um Hilfe geschrien hat: die Moral. Und um diese Moral des Menschlichen zu erzwingen, konstruiert Dorst eine wunderbare Welt der Absonderlichkeiten, deren ferne Lieblichkeit unser Augenmerk auf die kleine Würde menschlicher Selbstgenügsamkeit lenken soll.

Weil aber das Böse nun mal in der Welt ist, muß es schließlich mit Gewalt in das Märchen hineingetrieben werden, weil sonst wird das Märchen zu weihnachtsleuchtend. Bei Herr Paul wurde dafür die Axt bemüht. Diesmal erfolgt die sinnlos grausame Wendung durch den irren Arzt Otto, der dem Debilen die Augen herausschneidet. Da wird dann der moralische Zeigefinger noch einmal tief ins unschuldige Blut getaucht, um zu sagen: Seid nicht mehr gleichgültig!

Matthias Hartmann ist für einen derartig netten Katechismus der kongeniale Partner. Der Regisseur des Käthchens weiß, wie man selbst mit der Klobürste ein Zeitstück auf Unterhaltung trimmt. Mit einer rührend-brillanten Ilse Ritter und dank eines realistischen Bühnenbildes von Momme Röhrbein gelingt es Hartmann immerhin zeitweilig, eine ironische Atmosphäre zu erzeugen, die der großbürgerlichen Draufschau etwas Penetranz nimmt. Aber das reicht eben bei weitem nicht aus, um etwas über wirkliche Menschen und ihre Verstrickungen in Biographie und Gesellschaft zu erzählen. Dafür braucht es Schärfe oder Experimente und nicht Geschichten aus „Grimms Asoziale“.

Till Briegleb

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