■ Daumenkino: Exotica
Unter den Obskurantisten, die das Gegenwartskino so aufzubieten hat, sitzt der Kanadier mit dem detonativen Namen Atom Egoyan in der allerersten Reihe, gleich neben Krzysztof Kieslowski und Emir Kusturica. Was ihre Filme im Innersten zusammenhält, ist ein gewisser Ekel an den real existierenden Verhältnissen von Fleisch zu Fleisch, dem mit einem eisernen Willen zur Gestaltung begegnet wird. Die als Gewalt am schmerzlich kleingeratenen Subjekt erlebte Wirklichkeit kehrt als phantastischer, von den Protagonisten nicht zu durchschauender Überbau wieder – Kieslowskis „Zufälle“ genannte Strafexpeditionen, Kusturicas „Träume“ und Egoyans „Voyeurismus“ bilden den Rohbau einer Überwältigungsmaschine, die auf internationalen Festivals zärtlich „Film“ geheißen wird. Das Drumrum muß Kunstgewerbe sein.
„Exotica“, seinen sechsten Film, hat Egoyan im Herzen von Fetisch-Country angesiedelt, in einem Yuppie-Strip- Club eben dieses Namens. Die Kamera fährt Pirouetten durch superattraktive, grünlich ausgeleuchtete Palmen- Busen-Arrangements des „Exotica“. Das hat durchaus etwas von einem Terrarium – ein Eindruck, der noch dadurch verstärkt wird, daß ein weiteres Mosaik der selbstverständlich hochkomplizierten „Handlung“ bei einem Tierhändler spielt, der exotische Vogeleier an seinem Körper transportiert, um den Zoll ungerupft zu passieren. Beim Brüten überrascht ihn dann aber der Steuerprüfer, der Egoyan zu diesem Film angeregt haben soll. Während der eine Vogeleier am Körper trägt, ist die Madame des Nachtclubs (angeblich Egoyans immer wieder durch sein Filmschaffen gespensternde armenische Frau Arsinée Khanjian) hochschwanger – MenschenTiereSensationen sehen dich an.
Christina (Mia Kirshner), ebenfalls Armenierin, legt im Nachtclub eine Schulmädchennummer hin, die sich garantiert mit Formalin gewaschen hat. Can't touch this – Berühren verboten, und so werden die Körper vorsichtshalber zu Medien, wie Egoyan in einem wirklich lustigen Tip-Interview erläuterte. Könnte schon sein, daß die völlige Entstofflichung der Verhältnisse, die hier unter dem gängigen Logo Voyerismus versucht wird, die Antwort der 90er auf die Liäsons der 80er ist, die einem immerhin noch Aids einbrachten.
Angeblich sollen alle Fäden irgendwo zusammenlaufen: Der „Exotica“-DJ war einst Christinas Lover, der Steuerfahnder, der sie abends anschmachtet, hat ein ermordetes Kind zu verkraften, dessen Babysitter Christina einmal war und dessen Leiche von Eric entdeckt wurde... und so weiter.
Die Wege des Herrn Regisseurs mögen unergründlich sein. Daß sie schließlich zu einem ermordeten Kind führen, ist so wundersam nicht. Mariam Niroumand
„Exotica“. Buch und Regie: Atom Egoyan. Kanada, 1994, 103 Min.
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