■ Stell dir vor, es ist Kampfeinsatz, und keiner merkt es
: Die Normalität des Ernstfalls

Die Bundesregierung beschließt den ersten Kampfeinsatz seit Bestehen der Bundeswehr, und kein Raunen geht durch die Gesellschaft, der die Friedfertigkeit konstitutiv für ihre zivile Verfaßtheit war. Eine Zäsur in der Nachkriegsgeschichte vollzieht sich, und die politische Klasse ersäuft in der Debatte um Verfahrensweisen. Allenfalls die Finten und Finessen der Regierung sind Gegenstand oppositioneller Rethorik: Bündnisverpflichtung vorgeschoben, Salamitaktik, kein Entscheidungsbedarf. Kein Wehret-den-Anfängen erschallt auf den Straßen, weil keiner mehr zu wissen scheint, wo vorne und wo hinten ist.

Die Ruhe, mit der die bundesdeutsche Gesellschaft auf den Beschluß der Bundesregierung reagiert, sie ist trügerisch. Die allseitige Einschätzung, daß sowieso nicht eintreffen werde, wozu die Bereitschaft signalisiert wurde, nährt ein weiteres Mal das Morgensternsche Prinzip, mit dem bislang Militäreinsätze behandelt wurden. Doch der Zuversicht, daß nicht sein kann, was nicht darf, wurde bereits mit dem Spruch des Bundesverfassungsgericht zu out of area der Boden entzogen. Mit dem Urteil wurde weniger die Einsatzmöglichkeit eröffnet als vielmehr offenbar, daß sie bereits seit Jahren besteht. Damit war ein zentrales Nachkriegstabu aufgelöst, ohne daß daraufhin der Diskurs um die politische Füllung dieser Leerstelle einsetzte.

Der Konflikt in Bosnien zermürbt seit Anbeginn mit der normativen Kraft des Faktischen das zivilgesellschaftliche Verdikt der Nicht-Intervention. Egal wer welche Position einnimmt, er hat die Moral nicht exklusiv auf seiner Seite. Es wurde bereits dutzendfach antizipiert, was nun Realität werden kann. Allerdings mit einer zentralen Erweiterung: Zu den altruistischen Überlegungen, was den Konflikt pazifizieren könne, wird sich alsbald die national-egoistische Aufrechnung gesellen, welche Opfer diese Pazifizierung denn erfordere. Keine Intervention ohne das nationale Interesse als Kehrseite. Spätestens der erste tote deutsche Soldat wird eine Verwerfung in der Gesellschaft offenbaren, die mit der bisherigen Bosnien-Debatte intellektuell angelegt war.

Die Bundesregierung hat nichts getan, um die Gesellschaft auf diese Konsequenzen des Tornado-Beschlusses vorzubereiten. Statt konzeptionelle außenpolitische und militärische Überlegungen vorzutragen, statt ein ethisches Wägen und eine historische Reflexion erkennen zu lassen, verweist sie auf die Anfrage der Nato, als würde sich damit die Debatte über Sinn und Zweck von alleine erledigen. Das offenbart allerdings einen politischen Geist, dem die Pflichterfüllung ein Wert an sich ist. Mit solch Sekundärtugenden wurden hierzulande dem Volk noch immer militärische Einsätze schmackhaft gemacht. Dieter Rulff