: Es gibt eine Grenze
■ betr.: „Alles Opfer; oder was?“, taz vom 1.12.94
Erklärung zu den Vorgängen in der Gedenkbibliothek um die Entschädigung einer SS-Aufseherin:
Die Gedenkbibliothek ist, wie auch die Robert-Havemann- Gesellschaft, 1990 aus dem Neuen Forum entstanden. Beide verband das Anliegen, nichts aus der Vergangenheit der DDR dem großen Vergessen zu überlassen und den Opfern des Stalinismus zu Gerechtigkeit zu verhelfen. Die Leiterin der Gedenkbibliothek, Ursula Popiolek, ist Gründungsmitglied der Robert-Havemann-Gesellschaft.
Frau Popiolek und ihr damaliger Mitarbeiter Siegmar Faust haben einer Frau alle Hilfe gegeben, damit sie für zehn Jahre Haft in der SBZ und der DDR entschädigt wird, zu der sie wegen ihrer Tätigkeit als SS-Aufseherin in einem Außenlager des Konzentrationslagers Ravensbrück von einem sowjetischen Militärtribunal verurteilt worden war.
Bei aller gebotenen Vorsicht gegenüber Urteilen der sowjetischen Militärtribunale: Es gibt eine Grenze. Eine Erkenntnis aus unserer Arbeit ist die, daß die Täter aus beiden deutschen Diktaturen lügen, verharmlosen, vertuschen, legitimieren. Sätze wie „Ich habe doch niemandem geschadet“ oder „Ich mußte das tun, sonst...“ gehören zu ihrem Standard. [...]
Wenn einer Frau wie Margot Pietzner zu einer Entschädigung für die Haft verholfen wird, die Folge ihrer Handlungen im Nationalsozialismus war, wird diese Grenze überschritten. Es ist einfach skandalös, sich für eine der Aufseherinnen einzusetzen und nicht für die Opfer.
Zum Beispiel haben 28 polnische Frauen, die bis heute an den Folgen von Verletzungen und Verstümmelungen durch „medizinische Experimente“ im Konzentrationslager Ravensbrück zu leiden haben, keine Entschädigung erhalten. Darüber hinaus schadet diese Unterstützung denen, die nach 1945 in den Lagern des NKWD gesessen haben und keine Nazis waren.
Das Bemühen, den Opfern stalinistischer Verbrechen Genugtuung zu verschaffen, kann nicht unter der Überschrift „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“ – oder er verdient zumindest mehr Vertrauen – laufen. Die daraus resultierende Ignoranz gegenüber dem Nationalsozialismus und seinen Verbrechen verhindert eine glaubhafte Auseinandersetzung um die Verantwortung des einzelnen in Diktaturen und in der Gesellschaft überhaupt.
[...] Es ist schmerzlich, daß Menschen wie Siegmar Faust und Ursula Popiolek einfachste moralische und politische Grundsätze verlassen und an der Seite einer ehemaligen SS-Angehörigen dazu beitragen, Täter gegenüber Opfern zu begünstigen. Sie unterstützen damit auch die unbefriedigende Entschädigungspolitik der Bundesregierung, mit deren Hilfe lettische Angehörige der Waffen-SS einen Anspruch auf Rente durchsetzen können, während lettischen Häftlingen aus deutschen Konzentrationslagern eine Entschädigung verwehrt bleibt. [...]
Siegmar Faust und Ursula Popiolek haben darüber hinaus alle moralischen Bedenken verdrängt und sich von einer SS-Aufseherin auch noch privat beschenken lassen – mit Geld, das die Opfer der NS-Verbrechen bitter nötig hätten, vor allem in den osteuropäischen Ländern.
Genauigkeit und Öffentlichkeit müssen die Grundprinzipien unserer Arbeit sein. Unangenehme Wahrheiten und schwierige Umstände in persönlichen Biographien müssen zu tieferer Durchdringung dessen, was Nationalsozialismus und Stalinismus ermöglichten und bewirkten, provozieren, nicht aber zu unzulässigen Vereinfachungen.
Diese Grundprinzipien wurden durch die beiden Mitarbeiter der Gedenkbibliothek verletzt. Die nötige Basis für eine Zusammenarbeit hat Frau Popiolek damit zerstört. Wir haben sie aufgefordert, die Robert-Havemann-Gesellschaft zu verlassen. Die Mitarbeiter, der Vorstand
und die Geschäftsführung der
Robert-Havemann-Gesellschaft
e.V.
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