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Mordrekorde in den Frühlingsstädten

Die kolumbianischen Drogenhochburgen Medellin und Cali zählen zu den gewalttätigsten Städten im statistisch gesehen gewalttätigsten Land der Welt  ■ Von Ralf Leonhard

Die letzte Ruhestätte von Pablo Escobar ist nicht schwer zu finden. Zwar gibt es auf dem im englischen Stil gehaltenen Friedhof Jardines de Montesacro, wenige Kilometer südlich von Medellin, keine lebensgroßen Engel oder steinernen Madonnen, wie sie oft die Gruften der Reichen zieren. Doch die Fülle frischer Blumen hebt das Grab des ehemaligen Kokainzars unter den anderen weit sichtbar hervor. In einem Strauß roter Rosen steckt eine Grußbotschaft der Mutter anläßlich des Tages der Liebe und der Freundschaft, verfaßt in der pedantischen Handschrift der einstigen Dorflehrerin. „Sie kommt jeden Vormittag vorbei und betet hier für den Seelenfrieden von Pablo“, erzählt der Wächter, der dafür bezahlt wird, daß er die Grabstätte keinen Moment aus den Augen läßt.

Doch die Wachsamkeit ist fast überflüssig. Pablo Escobars Ruhestatt ist zu einer Pilgerstätte geworden, zu der nur Verwandte, Freunde oder Verehrer kommen oder auch einfach Neugierige, die sich neben dem Namenszug des größten Sohnes von Medellin ablichten lassen. „Er war ein guter Mann, der Dutzende Häuser verschenkt hat und seine Leibwächter Geld unter die Armen verteilen ließ“, erzählt der Wächter. Und mancher Taxifahrer in Medellin ist überzeugt, daß Escobar gar nicht tot ist, weil er unverwundbar sei. Nicht durch Drachenblut wie der Nibelungenheld Siegfried, sondern durch ein Christusbild unter der Haut.

Keiner hat das Image der kolumbianischen Stadt Medellin weltweit so geprägt wie Pablo Escobar Gaviria, der als jugendlicher Schulversager sein erstes Geld mit dem Raub metallener Grabplatten verdiente, sich zum Autodieb hocharbeitete und später durch die Erschließung zuverlässiger Kokaintransportwege in die USA zu einem der reichsten Männer der Welt wurde. Als Chef des von ihm aufgebauten Kartells von Medellin kassierte er Abgaben von allen anderen Drogenhändlern der Provinz Antioquia und sagte dem Staat den Kampf an. Eine Serie von Attentaten auf Richter, Minister und Präsidentschaftskandidaten wird seiner Organisation zugeschrieben. In seinem Sold stand ein Heer von Leibwächtern, Chemikern, Piloten, Polizisten, Funktionären, Informanten, Spediteuren und professionellen Killern, den sicarios. Medellin wurde zum Synonym für Gewalt und Drogenterrorismus.

Die drittgrößte Stadt Kolumbiens, im schmalen Tal des Rio Medellin gelegen, war ursprünglich für ihr sanftes Klima, für den Fleiß und die Freundlichkeit ihrer Einwohner bekannt. Die Paisas, wie sich die Bewohner der Provinz Antioquia nennen, haben sich den Pioniergeist bewahrt, mit dem ihre Vorfahren im vergangenen Jahrhundert ein Dorf nach dem anderen den dichten Wäldern abgerungen haben.

Medellin war nie eine Stadt der Intellektuellen und Theoretiker, sondern von Leuten der Tat, die den Indianerhäuptling Nutibara als Symbol ihres unbändigen Willens würdigen. Nutibara wurde für seinen Widerstand gegen die spanischen Eroberer mit dem Tod auf dem Scheiterhaufen bestraft. Reisende im 19. Jahrhundert berichteten, daß sich in Medellin alles ums Geld drehte, obwohl die Paisas auch die Familie und die Religion in Ehren halten. Auch heute noch ist das Bild der Mutter Gottes allgegenwärtig, und der Geschäftssinn prägt die zwischenmenschlichen Beziehungen.

Die Textil- und die Lebensmittelindustrie der Stadt sind über die Grenzen Kolumbiens hinaus für die Qualität ihrer Produkte berühmt, die deftigen Gerichte mit Rindfleisch und roten Bohnen stehen als Paisa-Platte in allen Restaurants des Landes auf der Speisekarte. Zuwanderer aus anderen Landesteilen haben unter dem in Medellin kultivierten Regionalchauvinismus zu leiden, der die Integration erschwert. Nichts sorgt für mehr Emotionen als der Fußball, vor allem wenn die Lokalmannschaft Atletico Nacional gegen einen Verein aus der Hauptstadt Bogota antritt.

Die Stadt erlebte um die Jahrhundertwende ihre erste große Expansionswelle. Zwischen 1900 und 1950 verzwölffachte sich die Einwohnerzahl. Ein explosionsartiges unkontrolliertes Wachstum aber setzte während des Bürgerkriegs in den fünfziger Jahren ein, als die Bauern vor den mordenden Banden in der Stadt Schutz suchten. Sie siedelten sich an den Hängen der Berge an, die Medellin im Osten und Westen säumen und der Ausdehnung der Stadt natürliche Grenzen setzen. Es waren „einfache Leute, die vom Land ihre Bräuche mitbrachten: den Rosenkranz beten, Schnaps trinken, den Nachbarn berauben und sich wegen Kinkerlitzchen mit der Machete zu Tode prügeln“, wie Fernando Vallejo in seinem Roman „Die Madonna der Sicarios“ mit anschaulicher Brutalität schildert.

1914 noch schrieb der Chronist Jorge Rodriguez erschüttert, daß sich sechs Mordfälle in der Stadt zugetragen hätten. Medellin zählte damals 80.000 Einwohner. Auf die heutige Einwohnerzahl umgerechnet entspricht das 120 Morden jährlich. 1993 wurden aber nicht weniger als 6.293 Tötungsdelikte gemeldet. Jedes dritte Opfer hatte das 19. Lebensjahr noch nicht vollendet. Genauso viele starben, weil sie ihr Auto verteidigen oder ihre Marken-Tennisschuhe nicht ausziehen wollten.

Unter den entwurzelten Bewohnern der Elendsviertel, wo der billige Anisschnaps Hemmungen schnell beseitigt, entstand eine Kultur der Gewalt, die im Kampf um die Legalisierung der widerrechtlich besetzten Grundstücke, um das Beschaffen von Wasser und Strom, um die Verteidigung des Territoriums gegen Neuankömmlinge bald das menschliche Zusammenleben in den comunas prägte. Von der staatlichen Justiz war nichts anderes als Willkür zu erwarten, und die Armee, die hinter jedem Armen einen Guerillero vermutete, heizte das Klima der Gewalt noch an. Die Banden, die in den sechziger Jahren durch Entführungen und später durch Drogengeschäfte für eine materielle Umverteilung sorgten, erschienen wie klassenkämpferische Robin Hoods.

Von den 1,7 Millionen Einwohnern der Gemeinde Medellin lebt inzwischen die Mehrzahl in den comunas, die sich im Nordwesten und Nordosten immer weiter die Hänge hochgearbeitet haben: je höher gelegen, desto jünger ist die Siedlung, und desto ärmer und gefährlicher ist sie auch.

Mit dem Einsetzen der Wirtschaftskrise, Massenentlassungen in der Textilindustrie als Konsequenz des Hereinströmens billiger Schmuggelware aus Fernost und weiterem unkontrolliertem Wachstum der Elendsviertel nahm auch die Gewalt zu. Im Gefolge der historischen Bischofskonferenz von Medellin, die 1968 den Einsatz der Geistlichen für das irdische Wohlergehen ihrer Gläubigen guthieß, predigten rebellische Priester den Klassenkampf. Die zur Schicksalsergebenheit aufrufende traditionelle Kirche verlor nach und nach an Autorität, während die patriarchalischen Familienstrukturen den von Arbeitslosigkeit, Elend und Übervölkerung erzeugten Spannungen nicht standhielten.

Der Vater spielt in den zerrütteten Familien ohnehin eine immer geringere Rolle. Mehrheitlich Witwen und ledige Mütter sind es, die für den Unterhalt der Kinder sorgen. Medellin hat die höchste Arbeitslosenrate des Landes. In den comunas ist jeder zweite Jugendliche beschäftigungslos. Gepaart mit dem Hang der Paisas zum materiellen Wohlstand ergibt das ein soziales Umfeld, in dem die Kokainmafia, die ab Mitte der siebziger Jahre entstand, reichlich junge Leute fand, die bereit waren, für ein paar hundert Mark ihr Leben zu riskieren.

Die meisten fingen wie Pablo Escobar klein an, als „Maultiere“, die geringe Mengen Kokain im Gepäck oder in den Eingeweiden in die USA transportierten. Ausgerüstet mit Statussymbolen wie Motorrädern und Markenkleidung animierten sie Verwandte und Freunde in der Nachbarschaft, auch „leichtes Geld“ zu verdienen.

Die Drogenhändler, die allesamt aus bescheidenen Verhältnissen stammen, arbeiten mit List, Bestechung und Gewalt. In dieser Reihenfolge. „Vor die Wahl gestellt, mit 100.000 Dollar auf dem Konto zu leben oder arm zu sterben, verzichten auch prinzipientreue Menschen darauf, ein Flugzeug zu durchsuchen, das nachts auf dem Flugfeld zwischenlandet.“ So erklärt Hector Rincón, der Direktor des alternativen Monatsmagazins La Hoja, wie das System funktioniert. Einmotorige Maschinen mit einer Tonne Kokain an Bord werden während ihres Fluges in die USA einfach unsichtbar.

Für die Schmutzarbeit sorgen die pistolocos, die „verrückten Killer“, die im Auftrag der Drogenhändler mißliebige Personen aus dem Weg räumen. Ihre Lebenserwartung ist gering, doch mangels realistischer Alternativen ziehen sie ein kurzes luxuriöses Leben dem ehrlichen, aber trostlosen Alltag vor. „Sie haben gesehen, wie sich ihre Eltern ihr Lebtag lang abrackerten und trotzdem arm starben“, erzählt Alonso Salazar, der in seiner packenden Sozialstudie „Totgeboren in Medellin“ die Psyche der jugendlichen Meuchelmörder, der pistolocos und sicarios nachgezeichnet hat. Sie sterben mit reinem Gewissen, wenn sie der über alles geliebten Mutter einen Kühlschrank und eine Parabolantenne hinterlassen können.

Gegen die kriminellen Banden wurden von den Kaufleuten Killertrupps aufgestellt, die jedes Straßenkind als potentiellen Verbrecher umbringen. „Soziale Säuberung“ heißt der Euphemismus für diese Form vorbeugender Selbstjustiz. Gleichzeitig entstanden Selbstschutzverbände gegen das Unwesen von Banden aus Nachbarbezirken. Im Laufe der Jahre steigerten sie ihren Organisationsgrad und bildeten regelrechte Milizen, die häufig von den in der Umgebung operierenden Guerillaorganisationen beraten und ausgebildet wurden.

„Als ich sah, wie ein halbwüchsiges Mädchen in der Nachbarschaft von einer Gruppe vergewaltigt wurde, sagte ich mir, daß etwas geschehen müsse“, erinnert sich Comandante Santofimio. Eine tiefe Narbe, die sich vom Kinn fast bis zum linken Ohr zieht, und die Erinnerung an den ersten Raubüberfall haben den heute 29jährigen nicht so geprägt wie dieses Erlebnis. Mit Pablo Garcia, der längst tot ist, gründete er die erste Selbstschutzgruppe im Barrio El Popular II. Sie räumten mit den Drogenumschlagplätzen auf, organisierten Geld durch Banküberfälle und verscheuchten die Banden. An Waffen zu kommen war kein Problem: „Die haben wir erbeutet oder der Polizei abgekauft.“

Repressive Methoden gegen die Gewalt in den comunas haben versagt. Die Regierung unter César Gaviria richtete deswegen kurz nach ihrem Amtsantritt 1990 eine direkt vom Präsidentenbüro abhängige Kommission ein, die ursprünglich nur eine Diagnose des Problems liefern sollte, bald aber exekutive Aufgaben übertragen bekam. Denn längst hatten lokale regierungsunabhängige Organisationen (NGO) in den Elendsvierteln nicht nur Studien erstellt, sondern auch Projekte entwickelt, um vor allem den Jugendlichen Alternativen zu Drogenhandel, Raub und Mordhandwerk anzubieten.

So hat die Kommission des Präsidenten eine Anzahl von Initiativen der von europäischen Hilfswerken gesponserten Corporación Region aufgegriffen und fördert jetzt selbstverwaltete Jugendhäuser, bildet sogenannte Konziliatoren aus, Mitglieder einer Art kommunalen Gremiums für geringfügige Streitsachen im Wohnviertel, versucht die Privatunternehmer für Ausbildungsprogramme und Arbeitsplätze zu gewinnen und veranstaltet Seminare über Menschenrechte. Einzelne Programme werden von der deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau mit finanziert.

Mit einem Teil der Milizen konnte die Regierung im Mai Frieden schließen. Gegen die Zusage von Erziehungs-, Gesundheits- und Arbeitsbeschaffungsprogrammen in den comunas legten 650 Paramilitärs am 26. Mai 1994 die Waffen nieder. Noch am selben Tag wurden sie in Uniformen gesteckt und neuerlich bewaffnet: diesmal als halbautonome Sicherheitsgenossenschaft.

In achtwöchigen Kursen wurden die 17- bis 25jährigen Milizsoldaten ausgebildet und dann mit Schrotflinten und Revolvern – nach der Gefährlichkeit des Einsatzbezirks – auf Patrouille geschickt. „Zwölf Mann haben wir seither verloren“, erzählt Jorge Ivan Rivera, der die Waffenausgabe überwacht, „die meisten durch persönliche Abrechnungen.“ Ein weiteres Opfer wird wenige Tage später in der Zeitung gemeldet.

Im Vergleich zu den Elendsvierteln anderer lateinamerikanischer Großstädte wirken die von Medellin geradezu gediegen: Die Häuser sind aus Zement und haben fast alle legalen Strom- und Wasseranschluß. Wo die Genossenschaft funktioniert, ist es in den letzten Monaten auch sicherer geworden. Trotzdem würde es keinem einfallen, sich ohne ortskundigen Führer in das Labyrinth der comunas zu wagen.

Fabian ist seit ein paar Monaten Chef eines Jugendhauses im Viertel Santa Cruz auf den nordwestlichen Hängen. Der Rohbau wurde vor kurzem von der Präsidenten- kommission angekauft. „Vorher mußten wir mieten oder in geliehenen Lokalen arbeiten“, erzählt der schlaksige 19jährige, der sich als Schlagzeuger in einer Band den Lebensunterhalt verdient. Im Halbdunkel des Raumes spielen zwei Jungen Schach, während ein halbes Dutzend Mädchen im Fernsehen den abendlichen Fortsetzungsroman verfolgt.

Albeiro ist schon 26 Jahre alt. Er hat den ersten Kunden für die künftige Mechanikerwerkstatt aufgetrieben. Im Hinterhof steht ein altersschwacher Fiat, der frisch lackiert werden soll. Die Tischlerwerkstatt im Untergeschoß ist noch Zukunftsmusik. Immerhin haben private Firmen etwas Werkzeug gespendet und Arbeitsplätze angeboten.

Ein Hoffnungsschimmer? Die

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Jugendlichen sind jedenfalls motiviert und auch Hector Rincón sieht einen Silberstreif am Horizont, seit das Kartell von Medellin zerschlagen ist und die Regierung eingesehen hat, daß den sozialen Problemen nicht mit Repression beizukommen ist. Er meint, daß der Wert des Lebens wieder höher geschätzt würde als vor ein paar Jahren: „Die Leute sehen, daß Drogen und Gewalt ein gutes Geschäft sind, aber daß sie dabei nicht alt werden.“ In seiner Zeitschrift La Hoja versucht er die positiven Aspekte der Stadt, die nie in die großen Medien kommen, aufzuzeigen. Das Blatt fördert künstlerische Initiativen in den Stadtvierteln, berichtet über Kulturereignisse, nimmt Stellung zur neuen Metro, die nicht unterirdisch, sondern auf hohen Trassen geführt wird, die sich wie eine Narbe durch die Stadt ziehen, zeigt die Folgen der Gewalt auf und veranstaltet jedes Jahr ein großes Fest für alle Abonnenten. Rincón appelliert an die Gesellschaft, die Angst abzuschütteln: „Die Drogenmafia hat uns schon genug Zeit von unseren Unterhaltungen geraubt.“

Rund 450 Kilometer südlich von Medellin im fruchtbaren Cauca- Tal liegt Cali. Statistisch gesehen, ist sie nur halb so gewalttätig. Die 1,8 Millionen Einwohner große Stadt rühmt sich des ewigen Frühlingsklimas und der schönsten Frauen der Welt. Wie die berühmteren Brasilianerinnen sind sie ein Produkt des bunten Rassengemisches aus Indianern, den Nachfahren der europäischen Kolonisatoren und der afrikanischen Sklaven und Sklavinnen.

Cali ist im Gegensatz zu Medellin eine Stadt der Kultur. Der Roman Maria von Jorge Isaacs, die tragische Liebesgeschichte der Kinder reicher Großgrundbesitzer bei Cali, ist Pflichtlektüre für alle kolumbianischen Schüler. Das Experimentaltheater von Cali (TEC) hat Weltruf, und das Ballett kann sich sehen lassen, vor allem, wenn es lateinamerikanische Rhythmen tanzt. Cali ist das Mekka der Salsatänzer. Die Universidad del Valle und eine Anzahl kleinerer Hochschulen bringen eine jedes Jahr größere Menge von Akademikern hervor, vor allem Frauen.

Santiago de Cali, 1536 vom spanischen Eroberer Sebastian de Belalcazar gegründet, war bis vor relativ kurzer Zeit ein unbedeutendes Dorf, das zu Beginn des Jahrhunderts keine 25.000 Einwohner zählte. Die ökonomische Macht des Cauca-Tals konzentrierte sich damals weiter südlich in Popayan, wo die Sklavenwirtschaft und die Zuckerproduktion eine mächtige Landaristokratie hervorgebracht hatten.

Erst 1915, mit dem Bau der Eisenbahn zum Pazifikhafen Buenaventura und der Eröffnung des Panama-Kanals wurde Cali aus seiner geographischen Isolation herausgeholt und entwickelte sich schnell zu einem dynamischen Umschlagplatz für den in der Region angebauten Kaffee, der früher den mühevollen Weg über den Rio Magdalena zum Atlantik nahm. Mit dem Zweiten Weltkrieg erhielt die Industrie jene Impulse, die Cali zu einem boomenden Wirtschaftszentrum machten, das Arbeitsuchende aus allen Landesteilen wie ein Magnet anzog.

Einer davon war Orlando Maturana, der 1947 am damaligen Stadtrand seine Hütte baute. In seiner Heimatprovinz Choco konnte ein Abiturient damals nur Lehrer oder Tischler werden. Orlando fühlte sich aber zum Mechaniker berufen. Dank eines Onkels konnte er in Medellin seine Ausbildung absolvieren, stieß aber als Schwarzer auf den Rassismus der Paisas, der ihm den Zugang zu qualifizierten Jobs versperrte: „Der Schlechteste meines Jahrganges wurde eingestellt, während ich als Viertbester wegen meiner Hautfarbe abgelehnt wurde.“ Orlando zog also weiter nach Cali, denn er hatte gehört, daß sich dort viele Schwarze aus Buenaventura angesiedelt hatten. Die meisten leben wie Orlando und seine Frau Tita im Stadtteil Agua Blanca, der inzwischen 350.000 Einwohner zählt.

In den Slums von Agua Blanca durfte 1984/85 die Guerillabewegung M-19 während eines kurzen Waffenstillstands mehrere Lager aufschlagen. Beide Seiten nahmen das Abkommen nicht ernst. Während die M-19 begann, die Bevölkerung zu organisieren und für den Volksaufstand zu bewaffnen, machten die Militärs gemeinsame Sache mit den Drogenhändlern in den Armenvierteln, um die Guerilleros systematisch zu liquidieren. Die Waffenruhe platzte endgültig, als im Mai 1985 eine Verhandlungsdelegation der M-19 in Cali mit einer Granate attackiert wurde. Antonio Navarro Wolff, der spätere Gesundheitsminister und Präsidentschaftskandidat, verlor ein Bein.

Heute sind es längst nicht mehr revolutionäre Organisationen, sondern die Drogenkartelle, die in diesen Vierteln den Ton angeben. Agua Blanca ist Kriegsgebiet. Wenn ein Toter an der Ecke liegt, stellt keiner Fragen. Wer die Mörder gesehen hat, schaut weg, wenn ihm das eigene Leben lieb ist. In der Comuna 14 von Agua Blanca, mit 126.000 Einwohnern einer der größten Bezirke, wurden zwischen dem 14. Januar und dem 9. August dieses Jahres nicht weniger als 121 Morde gemeldet. Von den Tätern konnten nur 12 Prozent identifiziert werden. In der dritten Septemberwoche wurden in ganz Cali 56 Morde gezählt, drei davon in der Comuna 14.

„An Wochenenden und an Feiertagen wie dem Muttertag ist die Opferquote besonders hoch“, sagt German Cobo, einer der Beauftragten für das kommunale Friedensprogramm. Durchschnittlich 60 Prozent der Opfer waren zur Tatzeit betrunken. Deswegen hat das Rathaus vor ein paar Monaten den Alkoholausschank eingeschränkt: Am Wochenende müssen die Lokale um Mitternacht schließen. Gleichzeitig errichtet die Polizei in den kritischen Zonen Straßensperren, um alle Passanten auf Waffen zu filzen. Allein in der Woche vom 12. bis zum 18. September konfiszierte sie 21 Revolver, vier Pistolen, drei Schrotflinten und 1249 Dolche.

Manche Tote tauchen in der Statistik gar nicht auf oder nur, wenn sie in Massen umkommen, wie die über 20 Obdachlosen, die vor zwei Jahren mit vergiftetem Schnaps massakriert wurden. Die desechables, die Entbehrlichen, Wegwerfbaren, fristen ihr verachtetes Dasein in der Olla, rund um den Markt, wo sie alles Verwertbare sammeln, um es an Recycling- Betriebe zu verkaufen. Nachts kauern sich die Straßenkinder und Obdachlosen vor der Kathedrale und unter den Vordächern von Banken und Geschäften auf Pappkartons und alten Zeitungen zusammen. Meist in Gruppen, denn sie leben gefährlich. Nicht selten kommt eine gutgelaunte Runde der Jeunesse dorée nach einer Party auf die Idee, desechables zu jagen: vom Auto aus, wie auf Safari. Die Mörder wissen, daß sie nicht zur Rechenschaft gezogen werden, denn auch viele Polizisten widmen sich nach dem Dienst der „sozialen Säuberung“, der Ermordung von Obdachlosen, Straßenkindern, Kleinkriminellen, Homosexuellen und Prostituierten. Der billige Straßenstrich zieht aber auch manch biederen Geschäftsmann aus Europa an, der weiß, daß er in Cali eine Vierzehnjährige vergewaltigen kann, ohne strafrechtliche Konsequenzen fürchten zu müssen.

Der Stadtteil Alto Aguacatal ist trotz seiner 20.000 Einwohner auf der Karte von Cali nicht eingezeichnet. Unweit eines eleganten Country-Clubs, wo die Reichen Tennis spielen und sich am Swimmingpool vergnügen, klebt die Siedlung an einem steilen Hang. Zuwanderer aus allen Landesteilen leben dort. Mürrische Individualisten, die dem Elend und der Gewalt auf dem Lande zu entkommen trachteten und keinem Nachbarn über den Weg trauen. Weil sich kein Gemeinschaftsgeist entwickelte, ließen sie sich lange Zeit von Jugendbanden terrorisieren, die auf den Gehwegen Schutzgebühren kassierten und nach Belieben die Häuser ausraubten.

Dort hat sich der Berner Sozialtherapeut Beat Herrmann auf einer ehemaligen Kaffeefinca eingemietet, um Alternativen zur Gewalt zu entwickeln. Er hat eine Stiftung für die „Integrale Menschliche Entwicklung“ gegründet, die bisher nur aus ihm, seiner kolumbianischen Frau und drei lokalen Assistenten besteht.

Herrmann ist der Meinung, daß die Neigung zur Gewalt nicht allein mit der Armut und Marginalisierung zu erklären ist. Sie beginnt beim Umgangston innerhalb der Familien. Viele der jungen Leute, die zu ihm kommen und sich den Hausregeln – keine Waffen, keine Drogen – beugen, suchen einfach jemanden, der ihnen zuhört oder ihnen ein bißchen menschliche Zuwendung bietet. Daß ein Achtjähriger bei einem Keramikkurs eine detailtreue Pistole modelliert und ein zwölfjähriges Mädchen einen tönernen Penis knetet, verrät viel über die Sozialisation im Viertel. In Alto Aguacatal gehört es zum Alltag, daß die erste sexuelle Erfahrung eines Mädchens eine Vergewaltigung durch den Vater oder einen anderen Mann ist. Familien, in denen alle drei Generationen basuco rauchen, einen billigen, extrem schädlichen Abfallstoff der Kokainproduktion, der Vater einbrechen und die Mutter auf den Strich geht, sind keine Seltenheit.

Die 13jährige Sandra Marulanda, die mit ihrer Mutter und einem älteren Bruder in einer der engen Hütten lebt, hat mehrere Freundinnen, die mit zwölf bereits schwanger waren. Über dem Bett des Bruders hängt eine Zeichnung, die einen Wald von Grabsteinen zeigt. Auf den Kreuzen in der vordersten Reihe sind Namen von drei Bandenführern und deren Sterbedaten eingraviert: Cholo, 28. 5. 94; Garvis, 22. 12. 93, und Edward, 27. 3. 94. Keiner weiß genau, wer sie gejagt hat. Wahrscheinlich eine von Geschäftsleuten und Großgrundbesitzern bezahlte Todesschwadron.

Der 14jährige Victor wohnt mit seinem Vater, einem Bruder und seinem Cousin Mauricio in einer an die Felswand gelehnten Bambushütte, die so eng ist, daß nur ein Bett darin Platz hat. Vorher hatte die Familie ein Fertigteilhaus, gut viermal so groß, dessen Grundriß noch zu erkennen ist. Das wurde vor ein paar Monaten Stück für Stück von einer Bande abgetragen, während der Vater auf dem Bau arbeitete.

Beat Herrmann mußte seine Kurse wegen Geldmangels einstellen. Trotz schöner Worte will ihn weder die Stadtverwaltung noch eine NGO unterstützen. Ein privater Förderverein in Stuttgart, wo der Sozialtherapeut früher mit Heroinabhängigen arbeitete, kann gerade die Mietkosten aufbringen. Doch für den Ausbau einer ehemaligen Fabrikhalle, wo mit relativ geringem Aufwand Werkstätten, ein Theatersaal und sogar ein kommunales Restaurant eingerichtet werden könnten, ist nichts übrig. So bleibt als einziges Freizeitvergnügen, sich in der Kantine des Marco Tulio Gaviria zu besaufen oder sich mit Drogen vollzudröhnen.

In Cali ist die Befriedungspolitik reine Gemeindeangelegenheit. Zwar wurden im Vorjahr nur halb so viele Gewaltverbrechen begangen wie in Medellin, der Stadt mit der höchsten Verbrechensquote des Landes, doch sei die Lage ernst genug, daß auch hier eine großzügig dotierte Kommission der Regierung eingesetzt werden sollte, meint Dr. Cobo von der Friedenskommission. Ein Experiment mit der Entwaffnung von Jungenbanden als Gegenleistung für Arbeitsplätze ging vor zwei Jahren schief: Für die 400 ehemaligen Bandenmitglieder gab es nur 60 Jobs. Und die unbewaffneten Jungen wurden binnen weniger Monate zu Dutzenden von gegnerischen Banden und Todesschwadronen ermordet.

Arbeitsplätze sind knapp, obwohl die Bauindustrie dank der Drogendollars floriert und an allen Ecken und Enden Luxusappartements hochgezogen werden. Wieviele Jobs durch die Investitionen der Kokainhändler geschaffen wurden, ist unmöglich zu ermitteln. Doch anders als die Bosse des Kartells von Medellin, die ihr Vermögen in Luxus steckten und in ihrem Hochmut den Staat herausforderten, geht die Drogenmafia von Cali diskret vor. Sie korrumpiert Politiker und Polizisten, statt sie umzubringen, und wäscht das Geld über legale Geschäfte. Taxifahrer und Angestellte der Telefonzentrale bilden ein zuverlässiges Informationsnetz.

Die Bauindustrie ist der auffälligste der florierenden Wirtschaftszweige. Doch die Gebrüder Rodriguez Orejuela und Leute wie José Santacruz besitzen auch legale Chemielabors, Apotheken und sind an unzähligen Unternehmen beteiligt. Dennoch sieht Luis Cañon, Chefredakteur der Regionalzeitung El País und Autor einer Biographie über Pablo Escobar, die Auswirkungen des Kokainhandels auf die Wirtschaft eher negativ: „Sie kaufen fruchtbares Ackerland auf und verwandeln es in luxuriöse Landsitze.“

Im September wurde die ganze Führungsmannschaft der Polizei ausgewechselt, nachdem aufgeflogen war, daß vom Polizeichef abwärts die meisten Offiziere im Sold der Mafia standen. Kurz darauf erließ die Justiz Haftbefehle gegen Miguel und Gilberto Rodriguez Orejueöa. Doch anders als das Kartell von Medellin ist die Mafia von Cali keine straffe Organisation, die durch die Festnahme zweier Chefs geschwächt werden kann. Hunderte Razzien seit Jahresbeginn haben die über Cali verschifften Kokainmengen kaum dezimiert. Und der für die Region noch relativ neue Handel mit Heroin hat kräftig zugenommen, da in den isolierten Tälern von Tolima und auf den Hängen des Hulia- Tals nach dem Scheitern der staatlichen Substitutionspolitik der Mohn inzwischen das einzige rentable Produkt geworden ist.

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