Grosny: Panik nach Luftangriffen

■ Dutzende Tote durch russisches Trommelfeuer / Moskau: Unklarheit um Rücktritt des stellvertretenden Heereschefs Worobjow / Opposition gegen Militäreinsatz wächst trotz Boykott durch Rußlands Medien

Grosny/M'gladbach (ap/taz) – Mit Artillerie-Trommelfeuer auf das nach Dauerluftangriffen brennende Grosny haben die russischen Streitkräfte gestern ihre Offensive gegen die Kaukasus-Republik Tschetschenien dramatisch verstärkt. Kämpfer des tschetschenischen Präsidenten Dschochar Dudajew mußten in Ermangelung von Munition zusehen, wie gut ein Dutzend Kampfflugzeuge über die Stadt hinwegflog und sich in aller Ruhe Ziele aussuchte. Zahlreiche Zivilisten flohen in Panik in die umliegenden Berge, einem amerikanischen Fotografen riß eine Explosion den Kopf ab.

Derweil kommt die Regierung in Moskau immer mehr in politische Bedrängnis. Der Vorsitzende des Verteidigungsausschusses der Staatsduma, Sergej Juschenkow, sagte, Verteidigungsminister Pawel Gratschow habe das Kommando über die heftig umstrittene Intervention übernommen, weil der stellvertretende Heereschef, Generaloberst Eduard Worobjow, diesen Befehl verweigert habe und zurückgetreten sei. Die russische Nachrichtenagentur Interfax zitierte den Heereschef Wladimir Semenow hingegen mit den Angaben, Worobjow sei nicht zurückgetreten. Gratschow habe ein halbes Dutzend hohe Offiziere des Tschetschenien-Operation entlassen, meldete ITAR-TASS. Zur Verstärkung sollen demnach nun die Elitedivision „Taman“, die 1993 den Moskauer Oktoberaufstand niederschlug, und rund 800 Marineinfanteristen in die Kaukasusrepublik entsandt worden sein.

Die Menschenrechtsorganisation „Memorial“ forderte Präsident Jelzin erneut auf, das Blutbad im Kaukasus zu beenden. Aber auch Jelzins Menschenrechtsbeauftragter Sergej Kowaljow spricht sich für einen sofortigen Stopp der Kampfhandlungen aus. Er war vor wenigen Tagen mit einer Gruppe von Parlamentariern und dem „Memorial“-Vorstandsmitglied Oleg Orlow nach Grosny gereist. Dort hatte er das Bombardement des tschetschenischen Ministeriums für Staatssicherheit durch russische Truppen gesehen. Kowalikow hält es für einen Fehler, den derzeitigen Konflikt als „Entwaffnung von Banden“ zu verharmlosen. „In Wirklichkeit“, so der Menschenrechtsbeauftragte, „kämpft Rußland hier gegen ein Volk“.

Die zahlreichen Proteste kleiner Anti-Kriegs-Gruppen verhallten derweil weitgehend ungehört. So wurde in der russischen Presse weder über den Appell der Witwe des Nobelpreisträgers Andrej Sacharow, Jelena Bonner, noch über eine Anti-Kriegs-Erklärung von Altdissidenten berichtet, die schon 1968 gegen den sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei protestiert hatten. Bernhard Clasen