piwik no script img

„Das einzig Gute aus Deutschland ist heute noch der Mercedes“, sagt der Chef von Sega, und bei Nintendo sieht's aus wie im Krankenhaus. Die beiden Computerspiel-Produzenten setzen jetzt auf Pädagogik. Aus Tokio Chikako Yamamoto und Georg Blume

Ein Besuch im virtuellen Irrenhaus

Woher nimmt der Weihnachtsmann jedes Jahr Millionen neuer Computerspiele, wer macht sie und warum? Wer vor den Toren von Nintendo und Sega in Kioto und Tokio steht, weiß darauf noch weniger Rat.

Ein grauer Betonbau in einem abgelegenen Wohnviertel der alten Kaiserstadt Kioto, außen umzäunt von hohen Stacheldrahtmauern, innen steril wie ein Krankenhaus eingerichtet, in dem einen vor jeder Tür eine Sicherheitskamera anschaut: Das ist das Spieleparadies von Nintendo, Geburtsstätte der international populärsten Videofiguren (s. Interview) und noch 1993 eines der profitabelsten Unternehmen in Japan. „Unser Chef hat keine Ahnung von den Spielen“, gesteht Nintendo- Sprecher Hiroshi Imanishi. Entsprechend geistlos sieht in Kioto die Nintendo-Welt im Produktionsalltag aus. Hier gibt es noch feste Arbeitszeiten für Kreativjobs; es herrscht ein militärisch knapper Umgangston.

Dagegen gibt sich der Konkurrent Sega im alten Tokioter Hafenviertel einen lockeren Touch. Hausherr Hayao Nakayama fährt erst mit einem Mercedes vor und führt dann im Parterre seines gläsernen Firmenpalasts die neueste Spielidee vor: „Virtual Fighter“ nennt sich das „ultra-authentische“ Kampfspiel aus Nippons Spielhallen, das bald auch nach Deutschland geliefert wird. Weltweit machen die Duopolisten Sega und Nintendo derzeit rund 30 Milliarden Mark Umsatz, auch in Deutschland erreichen ihre Spiele inzwischen Millionenauflagen. Dabei haftet selbst dem forschen Sega-Boss, der heute zu den reichsten Männern Japans zählt, immer noch die Rüpelhaftigkeit eines Spielhallenbetreibers an: „Der Mercedes ist die einzige gute Sache, die heute noch aus Deutschland kommt“, stöhnt Nakayama, wenn man ihm Fragen nach der Gewalt in Videospielen stellt. „Die Deutschen“, ist er überzeugt, „haben die Bedürfnisse des neuen Multimedia-Zeitalters noch nicht erkannt.“

Der Sega-Chef gewährt uns einen Einblick in seine Software- Produktion. 900 Zeichner, Programmierer, Komponisten und Regisseure arbeiten rund um die Uhr im zur Zeit größten Spielelabor der Welt. Die meisten von ihnen sind zwischen zwanzig und dreißig Jahre alt. Für Nachtarbeiter hat man Liegecouchs eingerichtet, an jeder Ecke der riesigen Bildschirmwerkstatt steht ein Getränkeautomat. Ansonsten ist alles wie in der Spielhalle: der Lärm, die Geräte und die Typen davor – ein virtuelles Irrenhaus.

Sie tragen zerfledderte Jeans, lässige T-Shirts und gelegentlich Anzüge. Frauen arbeiten bisher nur in der Musikabteilung. „Für das neue Auto von Sonic brauche ich mit dem Computerdesign eine Woche“, erklärt ein Zeichner der populärsten Sega-Figur, dem Hochgeschwindigkeitsigel Sonic. Am Bildschirm klebt eine Postkarte aus Amerika mit den Worten Marcel Prousts: „Die echte Entdeckungsreise besteht nicht darin, neue Landschaften zu suchen, sondern sie mit neuen Augen zu sehen.“

Zu Segas Spieledesignern gehören Leute wie Yutaka Akai, zuvor Regieassistent beim japanischen Meisterregisseur Akira Kurosawa, Yoshio Akada, früher Herausgeber einer unabhängigen Tokioter Stadtteilzeitung, und Tokuhiko Uwabo, Sproß einer Ureinwohner-Familie aus Hokkaido. Der eine nennt sich Planer, der zweite Produzent, der dritte Software- Entwickler. „Bei einer Traditionsfirma wie Mitsubishi hätten sie uns nach einem Monat rausgeschmissen“, meinen alle. So wie die drei Sega-Macher demonstrativ über Chef und Firma lästern, hätten sie anderswo in der Tat schlechte Einstellungschancen. Akai, Akada und Uwabo sind gestrandete Überflieger: Kurosawa gab das Filmen auf, die Zeitung mußte irgendwann schließen, und die Indianer-Familie auf Hokkaido schickte ihren Sohn herzlos in die Stadt. So kamen alle drei nach Sega, wo beim Spieleprogrammieren für jeden verrückten Gedanken Platz ist. „Die Ainu-Indianer haben ihre Tradition verloren. Deshalb brauche ich heute meine virtuelle Identität“, fuchst Uwabo. „Man kann bei den Spielen nicht weinen wie bei Kurosawa“, klagt Akai. „Ich fahre Citroän, rauche Gitanes und habe zuviel Steiner gelesen. Deshalb kommt Sega gerade gut!“ frohlockt Akada.

Natürlich läßt sich mit den Gurus auch philosophisch reden: Baudrillard und seine Thesen vom Ausklingen der Gefühle kennen alle drei. Sie wissen also, was sie den Kids zumuten. Kann das beruhigen? Längst haben die Manager bei Sega und Nintendo erkannt, daß die bloße Übertragung von Spielhallentechnologie auf ihre Kleingeräte scheitern muß, wenn den neuen Wohnzimmerspielen der gleiche schlechte Ruf vorauseilt wie den Spielhallen. Die rettende Strategie heißt deshalb: „Edutainment“, die erziehende Unterhaltung. Computerspiele sollen in Zukunft immer weniger dem Vergnügen und immer mehr der seriösen Beschäftigung dienen. Als Sega am 22. November (zunächst nur in Japan) die neue Spielmaschine „Saturn“ auf den Markt brachte und die Kids gleich am ersten Tag vor den Geschäften Schlange standen, wurde dies von einer wohlklingenden Botschaft für die Eltern begleitet: „Ein Viertel alle Sega-Software für den Saturn wird pädagogische Funktionen übernehmen“, verkündeten die Werbeanzeigen.

Aber die Spielmultis lassen pädagogische Ziele auch schnell wieder fallen: Lange Zeit hatte sich die Firma geweigert, eine Blutversion des erfolgreichen Kampfspiels „Mortal Combat“ zu verbreiten, das ihr eine dritte Firma auf Lizenz verkaufen wollte. Dann aber gewann Sega ausgerechnet mit diesem Gewaltspiel einen so großen Marktanteil, daß Nintendo ernste Absatzprobleme bekam und sich schließlich doch fürs Blut entschied. Darüber hinaus müssen Nintendo und Sega mit neuer Konkurrenz von Sony und Matsushita rechnen. Die Marktführer der Unterhaltungselektronik brachten in Japan in den letzten Wochen erstmals eigene Spielgeräte heraus. Bis diese neue Spielegeneration auch nach Deutschland kommt, werden noch einige Monate vergehen. Ob dann ein Pädagogikboom oder eine Gewaltspirale folgt, wird sich zeigen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen