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Das große Pech des Bürgermeisters Tschech

Kurz vor Weihnachten 1844 wurde der „Königsattentäter“ Heinrich Ludwig Tschech auf der Richtstätte Spandau hingerichtet Er hatte aus Enttäuschung versucht, den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. zu erschießen  ■ Von Gregor Geismeier

Durch das Weihnachtsfest ging eine düstere Stimmung“, schrieb Heiligabend 1844 der demokratische Publizist Varnhagen von Ense in sein Tagebuch. „Die Hinrichtung Tschech's liegt den Leuten im Sinne, sie wird allgemein mißbilligt und man blickt mit Besorgniß in die Zukunft.“ In der Morgenkälte des 14. Dezember hatten die überraschten, ja entsetzten Berliner an den Häuserecken gedruckte „Warnungs-Anzeigen“ vorgefunden, in denen das Kammergericht lapidar die Enthauptung des Königsattentäters Tschech „heute auf der Richtstätte zu Spandow“ vermeldete. Noch im Dunkeln war Tschech nach Spandau gefahren worden, nur ein paar Milchbauern hatten den Zug gesehen.

Dabei hatte sich seit dem tragigrotesken Versuch am 26. Juli 1844, Friedrich Wilhelm IV. im Berliner Schloßhof zu erschießen, die Aufregung um Heinrich Ludwig Tschech und seine „Freveltat“ längst gelegt. Nach einer landesweiten Welle von Dankgottesdiensten und Ergebenheitsadressen, gipfelnd in der „Entsühnungsfeier“ Berlins am 26. September, als das Königspaar an die „entweihte Stätte“ zurückkehrte, sah man in dem Staatsgefangenen in der Hausvogtei eigentlich nur noch ein Objekt königlicher Großmut. Bettina von Arnim hoffte gar auf ein klärendes Gespräch zwischen König und Attentäter, bevor jener zur Ausweisung in die USA begnadigt würde. Königstreuer Dilettantenlyrik in Form von Stoßseufzern wie: „Ja frohlockt! der Ehrlosen Namen und Herz / Nicht Deutsch ist...“ und Verwünschungen gegen „die ihn betäubende exotische Gift-Pflanze“, mit Blick auf revolutionäres Rumoren in ganz Europa, folgte der Volkssarkasmus auf dem Fuße: „Hatte je ein Mensch so'n Pech / Wie der Bürgermeister Tschech, / daß er diesen dicken Mann auf drei Schritt' nicht treffen kann?“

Aber selbst dem König war der Vorfall mittlerweile Gegenstand gemütlicher Witzeleien. Es waren sein Bruder, Prinz Wilhelm von Preußen, und der Chef des Criminal-Senats des Kammergerichts, Adolf von Kleist, die im Interesse einer unerbittlichen Staatsräson „zur blutigen Strenge drängten“. Auch wenn der Nachweis einer Verschwörung nicht hatte erbracht werden können, so verhörte Kleist doch keineswegs einen „verrückten Bösewicht“, sondern einen Mann, der über sein eigenes Scheitern als allzu gerechtigkeitsversessener und unbestechlicher Beamter zu einer solche Kritik der Verhältnisse gelangt war, wie sie vier Jahre später Tausende auf die Barrikaden treiben sollte.

Es ist kaum bekannt, daß Tschech, sechster Sohn eines schlesischen Pfarrers und durch ein Duell verhinderter Jurist, sich in der Spandauer Vorstadt eine gutbürgerliche Existenz aufgebaut hatte. Er war 1810 als 21jähriger nach Berlin gekommen, hatte die Tochter eines honorigen Kriegsrats und Polizei-Inspektors a.D. geheiratet und 1815 einiges Vermögen und dessen Haus Münzstraße 22/ Ecke Verlorene (heute: Almstadt-) Straße geerbt. Hier richtete er seine kleine Lackierfabrik Tschech & Co ein. Einträglicher war aber wohl das Vermieten von elf Wohnungen in dem geräumigen Anwesen, und so konnte die vierköpfige Familie 1826 in „bessere Gegend“, ins eigene Haus Alte Kommandantenstraße (Neue Promenade), 1831 in die Große Präsidentenstraße 8 ziehen. Die Fabrik hatte Tschech aufgegeben, gewissenhaft kam er seinen Pflichten bei der preußisch-korrekten Eichungs-Commission in der Klosterstraße nach und führte ansonsten ein kultiviert-musisches Haus.

Alle Voraussetzungen für biedermeierliche Saturiertheit waren also gegeben, und so kann man nur vermuten, daß es Tschechs soziales Engagement in der Armen-Commission seines „Neues Schönhauserstraßen und Haakschen Markt-Bezirks“ gewesen ist, das ihm mehr als nur das übliche karitative Magendrücken seiner Kreise bereitet haben mag. Im Cholerajahr 1831 waren alle Berliner von den Auswirkungen derartiger Lebensverhältnisse betroffen, wie sie auch Tschech in den „Mücken“, den vier mit über 2.000 Menschen vollgestopften Wülcknitzschen Familienhäusern an der nahen Gartenstraße, begegnet sein mögen. Unermüdlich war Tschech als Cholerabeamter unterwegs, wobei er den vermeintlichen Schutzanzug aus Wachstaft als hilflosen Aberglauben abtat.

Die Cholera verschonte ihn, die Provinzialität eines märkischen Kaffs sollte ihm dafür zum Schicksal werden. Das einzige, was Tschech 1832 bewog, den Bürgermeisterposten im abgelegenen Städtchen Storkow anzunehmen, war die bessere Luft dort, die seiner schwindsüchtigen Frau Linderung verschaffen sollte. Als er aber binnen Jahresfrist die Frau und eine Tochter verloren hatte, da ließ ihn das noch bitterer auf die ohnehin empörenden Zustände in Storkow reagieren. Eine kleine Clique von „Honoratioren“ hatte hier seit langem in einem auskömmlichen Trott von Vetternwirtschaft, Gewohnheitsrecht und Korruption das Sagen.

Als unbestechlicher „Eichmeister“ richtete Tschech eine längst vergessene Gesetzlichkeit wieder auf, Storkow bekam den Ruf der „scharfen Ecke“. Während ihm das bei den kleine Leuten, die nun wenigstens von der gröbsten Willkür befreit waren, Dankbarkeit einbrachte, wurde das Verhältnis zu den „Großen“ von Storkow eisig. Alles an dem Fremden wurde haßerfüllt registriert: eine kultivierte Lebensführung mit einer Erzieherin für die Tochter Elisabeth und ein Reitpferd, auf dessen Rücken Tschech überdies die Sonntage lieber als auf der Kirchenbank verbrachte.

Seine freisinnige Toleranz, die z.B. den Storkower Juden endlich die gesetzlich längst verbriefte Gleichberechtigung verschaffte, so daß Tschech und seine Tochter selbst als die „Berliner Juden“ beargwöhnt wurden, und seine offene Verachtung für die „besseren Kreise“ der Stadt, alles das ließ die Luft um ihn immer dünner werden.

Zum 1. August 1841 haben ihn „die Storkower Bürger ... rechtzeitig von sich abgeschüttelt“, wie noch 50 Jahre später eine Chronik erleichtert konstatierte. Sicher hatte Tschechs moralischer Rigorismus auch etwas Überspanntes, das verschlafene, bequem verfilzte Storkow abseits der großen Straßen und Ereignisse war da einfach überfordert. Doch Tschech war nicht der einzige, dem ein solcher Versuch, die längst suspekten Ideen der preußischen Reformer mit Leben zu erfüllen, am Ende als „sehr tadelnswerte Dienstführung“ verargt wurde.

Wie tief er in Ungnade gefallen war, wurde ihm erst allmählich bewußt. Ein sozialer Abstieg ging mit politischer Desillusionierung einher. Das kleine Vermögen war bei 300 Talern Jahresgehalt für den Dienst in „Kamtschatka“ oder „Sibirien“, wie er Storkow nannte, längst aufgezehrt, das Berliner Haus verkauft. Konnte man sich anfangs noch eine Wohnung am Louisenplatz 11 (Robert-Koch- Platz) leisten, so landeten Tschech und seine Tochter im April 1844 in einem kärglichen „meublirten Logis“ in der Rosenthaler Straße 52/ Ecke Weinmeisterstraße, nachdem er alle Hoffnung auf eine Stellung hatte fahrenlassen. Spätestens, als das letzte Gesuch an den König 1843 mit den kalten Worten: „Es verbleibt bei meinem ablehnenden Bescheide ... Friedrich Wilhelm“ abgeschmettert wurde, konzentrierten sich Wut und Enttäuschung von Tschech auf den allerhöchsten Träger der „allgemeinen und besonderen Schuld“ – den König. Mit kämpferischen Schiller-Zitaten dieser Art steigerte er sich in die Rolle eines preußischen Wilhelm Tell hinein. Er ging zum Scheibenschießen auf den Schützenplatz am Prenzlauer Tor. Mitte Juni schließlich erschien er im Atelier des Daguerrotypisten Scholz in der Wilhelmstraße 91, ließ sich von diesem in einer Pose ablichten, die er „Kraft von Oben“ nannte, und verhieß dem verdutzten Fotografen: „Das Bild wird ganz Europa sehen!“

Am frühen Morgen des 26. Juli wurde die Fahrt des Königspaares zum Schlesischen Bahnhof nur für wenige Minuten unterbrochen, als Tschech zwei Schüsse ins Wageninnere abgab. Eine Kugel quetschte den König lediglich an der Brust, die andere zerschlug die Krone am Beschlag seiner Rückenlehne. Von der wütenden Menge fast gelyncht, wurde Tschech abgeführt, seine Tochter in der Rosenthaler Straße ebenfalls verhaftet. (Ihr gelang später die abenteuerliche Flucht in die Schweiz.)

Natürlich war an der Legende von Tschech als „Werkzeug seiner eigenen, beklagenswerthen Verirrungen“ gelegen, und Kleist zensierte alle politischen Äußerungen aus den Protokollen, nachdem die drei Manuskripte einer umfangreichen Rechtfertigungsschrift Tschechs aus dem Verkehr gezogen worden waren. Doch Varnhagen notierte schon wenig später einige, pikanterweise von Kleist selbst ausgeplauderte Äußerungen Tschechs: „... er habe den König beschuldigt, schlecht zu regieren, der gegebenen Zusagen zu vergessen, dem Volke die Konstitution vorzuenthalten“.

Der Federstrich des Königs unter das Todesurteil, das er angeblich weinend bestätigt haben soll, hatte Tschech über Nacht vom wohlwollend bespöttelten Pechvogel zum Märtyrer gemacht. Zwei Tage vor Heiligabend kursierte schon die Anekdote, ein Berliner Zuschauer der Hinrichtung habe die Zigarre aus dem Mund genommen und gerufen: „Bravo Tschech!“, worauf dieser erwiderte: „Ich danke Ihnen!“ Seine letzten Worte wurden durch Trommelwirbel übertönt.

Die wenigen anwesenden Spandauer, denen dieses grausige Schauspiel erst 1843 vom Ort des alten Hochgerichts an der Invalidenstraße (wo man den Stettiner Bahnhof baute) herbeigeschafft worden war, waren in völliger Unkenntnis über Tschechs Identität – eine letzte, besonders makabre Schikane gegen alle hier exekutierten Berliner, Charlottenburger und Potsdamer.

Zwölf Stunden später tauchte das Königspaar „überraschend“ in Potsdam auf, um „einige Tage in tiefster Stille und Zurückgezogenheit hier verweilen“ zu können. Fünf Tage später war der moralische Katzenjammer verflogen, und auf einer Kesseljagd zwischen Hasenheide, Tempelhof, Britz, Rudow und Buckow wurden 380 Hasen und zwei Füchse erlegt. Varnhagen schrieb zur selben Zeit prophetisch in sein Tagebuch: „Ich sage, nun, durch die Hinrichtung, habe der Schuß von Tschech den König erst recht getroffen!“

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