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Unerfüllte Verpflichtungen

Russisches Parlament billigt Haushalt 1995 / Defizit wohl höher, als den westlichen Kreditgebern versprochen / Regierung hofft zur Defizitdeckung auf Auslandskredite  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Der russische Haushalt für 1995 ist am Freitag in der Moskauer Duma in erster Lesung angenommen worden. Sie seien es, die von jetzt an die Verantwortung für Rußlands Versorgung mit Lebensmitteln trügen, drohte der Sprecher der Agrarier, Gennadij Kulik, allen politischen Gruppierungen, die für den Entwurf gestimmt hatten. Dazu gehören die in der Demokratiebewegung geborene Fraktion „Rußlands Wahl“, Schirinowskis „Liberaldemokraten“ und die Gruppe „Jabloko“, deren Anfangsbuchstaben sich unter anderem aus dem Namen des Wirtschaftswissenschaftlers Grigori Jawlinski ableiten.

Den Zorn der Agrarier erregte die Abschaffung einer zweiprozentigen Sondermehrwertsteuer zugunsten der Landwirtschaft, die im vorigen Jahr erhoben worden war. Um diesen Punkt war – ebenso wie um eine schließlich gebilligte Erhöhung des Mindestlohnes – zwei Tage lang in der Duma heiß gefochten worden.

Die eher fiktive Lohnkennziffer, die zur Berechnung von Pensionen und Beihilfen wichtig ist, soll nun bei 3.400 Rubeln (1,50 Mark) liegen. Ein gutes dutzendmal scheiterte der Entwurf an der erforderlichen Zahl von 225 Jastimmen, die zu seiner Annahme erforderlich sind.

Und so sieht der vorläufige finanzielle Rahmen aus, den die russischen Gesetzgeber letztes Wochenende mit 231 gegen 127 Stimmen um ihre Regierung gezogen haben: Der Regierung werden Ausgaben im Höhe von 229,9 Billionen Rubeln (69 Milliarden US- Dollar) gestattet und man erwartet von ihr Einnahmen im Werte von 153,7 Billionen (46 Milliarden Dollar). Das Haushaltsdefizit wird dabei vorsorglich auf 76 Billionen Rubel geschätzt. Finanzminister Panskow ließ allerdings verlauten, daß es angesichts der Steuer- und sonstigen Vorgaben der Duma eher um 2,5 Billionen höher läge. Damit wäre die Grenze von 7,7 Prozent des Bruttosozialproduktes bereits überschritten, die einzuhalten die russische Regierung ihren westlichen Kreditgebern versprochen hatte.

Die Einzelheiten schienen kaum jemanden sehr zu bekümmern, denn schließlich ist dies nicht die letzte Lesung des Gesetzesprojektes. Mindestens noch zwei weitere stehen bevor, in deren Verlauf noch genug Zeit ist, um um Einzelposten zu ringen. Deshalb setzte sich die weise Voraussicht durch, daß man es auch diesmal nicht ganz schaffen wird, das Budget vor dem Beginn des Jahres zu verabschieden, auf das es sich bezieht. Deshalb wurde parallel zum Budgetentwurf am Freitag auch gleich noch ein „Gesetz über die Finanzierung der Staatsausgaben für das erste Quartal des Jahres 1995“ verabschiedet. Es setzt Eckziffern in Höhe eines Viertels vom Haushalt des zu Ende gehenden Jahres.

Die russische Regierung geht ein weiteres Mal mit einer unendlichen Reihe unerfüllter finanzieller Verpflichtungen ins neue Jahr. Was die Regierung zahlte, zahlte sie oft zu spät. Die ohnehin eingeschnappten Kolchosniki zum Beispiel erhielten erst im Juli bis September Geld zur Reparatur und für das Leasing von Landmaschi nen. Diesmal haben die Deputierten, wie die Tageszeitung Kommersant schrieb, „faktisch die originelle Idee gebilligt, das Budgetdefizit ausschließlich mit Hilfe von Auslandsverschuldungen und der Emission von Wertpapieren zu tilgen“. Die russische Regierung rühmte sich bisher, im eigenen Land ohne Schulden zu sein, jetzt will sie der eigenen Zentralbank Staatsanleihen verkaufen. Das Parlament gab dazu für das erste Quartal bereits sein Plazet, sofern diese Kreditaufnahme nicht die Summe von fünf Billionen Rubeln übersteigt.

Was die Hoffnung auf weitere Auslandskredite betrifft, so hängt sie eben von der endgültigen Gestalt des jetzt erst konzeptionell vorliegenden Staatshaushaltes ab. Westliche Anleihen in Höhe von insgesamt 12,7 Millionen Dollar erhofft sich Ministerpräsident Tschernomyrdin für das nächste Jahr. Darunter einen Standby- Kredit von sechs Milliarden Dollar und einen vorerst nur beantragten Währungs-Stabilisierungs-Kredit in der gleichen Höhe vom IWF.

Dem russischen Volk und der Welt die eigene politische Zuverlässigkeit und Fähigkeit zu konstruktiver Arbeit zu demonstrieren, dies war in diesen konfliktreichen Tagen für die Duma-Deputierten ohne Zweifel ein stärkeres Abstimmungsmotiv als alle volkswirtschaftlichen Erwägungen. Das Parlament liegt in seiner großen Mehrheit mit dem Präsidenten und der Regierung in der Tschetschenien-Frage im Clinch.

In den frisch renovierten Korridoren riecht es nach Angst vor einem Patt zwischen Exekutive und Legislative und einem Duma-Ende im Stile der Auflösung des Obersten Sowjets im Oktober 1993.

Daß sie die gegenwärtige Budgetabstimmung nicht für das letzte Wort halten, zeigen auch die Militärs. Vorläufig fordern sie für 1995 „nur“ zehn Billionen Rubel zusätzlich zu den für sie im Haushalt vorgesehenen 46 Billionen. Aber jeder weiß, daß in Kriegszeiten die Generäle den Haushalt durch die Hintertür betreten.

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