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Eine Parallele existiert nicht

In Lindsey Collens Roman wird ein Mensch vergewaltigt – und keine Göttin  ■ Von Jean-Claude Bibi

Sita, die Geliebte und Lebensgefährtin von Dharma, wird von dem Franzosen Rowan, bei dem sie eine Nacht als Gast in Réunion verbringt, vergewaltigt. Alle drei sind literarische Figuren in einem Roman. Sie könnten auch lebendige Menschen der Gegenwart sein. Nach der Vergewaltigung wird Sitas Leben von Erinnerungsfetzen an die Gewalt verunsichert, die ihrem Körper und ihrer Seele angetan wurde, und sie heilt sich im Verlaufe des Romans auf höchst komplexe und schwierige Weise. Heilung ist nämlich nicht einfach eine Frage der Zeit oder des Hinter-sich-Lassens. Sie ist nur möglich durch quälendes „Eintauchen“ in sich selbst, in eine tiefere Bewußtseinsschicht des unzerstörbaren Kerns ihres Wesens, das sie, auch nachdem ihrem Körper Gewalt angetan wurde, zurückerobern kann.

Die (Hindu-)Göttin Sita, die von der Lust ihres mythologischen Entführers Rawan unberührt blieb, ist dagegen keine Figur dieses Romans. Die Sita des Romans repräsentiert auch nicht die unangreifbare Göttin gleichen Namens. Es ist völlig unsinnig, die Erwähnung der Göttin und Rawans als blasphemischen literarischen Trick zu betrachten. Denn Rawan könnte sich gegen eine Göttin nicht auf die Weise vergehen, wie es Rowan im Roman gegen Sita konnte, die nur eine gewöhnliche Sterbliche ist und die sich acht Jahre nach dem Geschehen mit dem, was in Réunion geschah, und mit der seither tief in ihr begrabenen Wut auseinandersetzen muß. Eine Parallele existiert nur auf der Ebene der Gewalt, des Bösen, das sowohl Rawan als auch Rowan verkörpern – und nicht zwischen ihnen als „Personen“. Auch ihre nahezu identischen Namen dramatisieren lediglich die Beziehung, stellen sie jedoch nicht her.

Eine derartige Parallele zwischen Sita, der Lebenspartnerin Dharmas, und der Göttin Sita existiert dagegen nicht. An keiner Stelle spielt die Autorin auf Gemeinsamkeiten zwischen der Hauptfigur ihres Romans und der mythologischen Göttin an. Es ist ausschließlich der Name, der die Verbindung herstellt. Allein das Mißverständnis, daß nämlich der Name die Göttin selbst meint, hat die Kontroverse hervorgerufen, die sich daher auch fast ausschließlich am Titel festgemacht hat.

Die Parallelisierung ist zudem rein mechanistisch: Da Rawan und Rowan beinahe identische Namen sind, will die Autorin wohl mit dem einen den anderen repräsentieren; daraus wird weiter, ganz „logisch“ gefolgert, die von Rowan vergewaltigte Sita des Romans repräsentiere die Göttin Sita. Aber derselbe Name bedeutet noch lange nicht, daß es um dieselbe Person, um charakterliche Identitäten oder sonstige Ähnlichkeiten gehen muß.

Der Roman wäre absurd, wollte er die Göttin Sita oder eine sie repräsentierende Figur als geschändet darstellen. Das entscheidende Argument wäre damit verloren, und es wäre dann in der Tat nur ein billiger und oberflächlicher Trick, die Göttin zu einer heutigen mauritischen Frau namens Sita zu machen. Aber weder in ihrem Schreiben noch in ihrem Denken hegt Lindsey Collen diesbezügliche Absichten. Die Autorin ist im Gegenteil aufrichtig darum bemüht, Sita als sterbliches Wesen, hier und heute, in ihrem Roman zu etablieren. Und für die thematische Kohärenz des Buches ist es sogar unabdingbar, daß die Sita der Erzählung vollkommen menschlich und verletzlich ist, und daß die unberührte Reinheit der Göttin aus den Geschichten der Mahabharata und Ramayana an keiner Stelle in Frage gestellt wird.

Lindsey Collen stellt also nicht etwa die Göttin Sita dar, die sie als zeitgenössische Frau verkleidet, und versieht ihre Roman-Sita, die von einem üblen Franzosen vergewaltigt wird, mit keiner einzigen Charakteristik der Göttin. Die fiktionale Sita ist – ebenso wie der Franzose – in unserer Welt und in unserem Land schließlich real genug! Ihre Erfahrungen – und sein Verbrechen – in diesem Buch sind kein bißchen jenseitig. Literatur ist manchmal nicht so weit von unserem alltäglichen Leben entfernt. Die Mahabharata und Ramayana anzuführen, ist weder Indiz noch Beweis für eine frivole oder verächtliche Ignoranz. Außerdem muß eine Autorin nicht notwendigerweise selbst religiös oder gläubige Hindu sein, um die heutige Bedeutung und den großen symbolischen Wert der Göttin Sita als uralten Ausdruck der Würde der Frau, als höchsten und universalen Wert und unzerstörbares Prinzip zu sehen und sogar dankbar anzuerkennen. Die bloße Erwähnung ihres Namens ist noch keine Identifikation und kann in keinster Weise als Angriff auf den Glauben der Anhänger dieser Religion oder sie selbst mißverstanden werden. [...]

Ich fürchte, daß der Autorin und dem Verlag des Buches „The Rape of Sita“ eine schlimme Ungerechtigkeit geschehen ist – und weiterhin geschieht. Und ich fürchte, daß das Recht nicht nur von mauritischen Lesern auf freie Wahl und freien Zugang zu Literatur zu haben, auf schlimmste Weise mißachtet und auf dem Altar unserer „Ethnien-Politik“ geopfert wird. Wir wissen nur allzugut, daß sich mancher Politiker bei uns gerne dazu hinreißen läßt, sich als Verteidiger der einen oder anderen Religion in die Brust zu werfen. Es ist vollkommen absurd zu behaupten, Lindsey Collen sei „anti-hindu“ oder eine arrogante Ausländerin, die den Glauben der Hindus – oder irgendeinen anderen Glauben – verächtlich behandele.

In ihrer Ausgabe vom 7.9.1992 attackierte La Vie Catholique die Autorin, nachdem „Lalit“, die Partei, der Lindsey Collen angehört, in L'Express ihre Ansichten über die Beziehung zwischen dem Staat und den konfessionellen Schulen publiziert hatte – eines der vielen „heiklen“ Themen in Mauritius. Sie ließ La Vie Catholique damals durch ihren Rechtsanwalt mitteilen, daß sie sich eine derartige Ehrverletzung nicht gefallen lasse, bezeichnete es als Rufmord, wenn behauptet würde, sie habe etwas „gegen Katholiken und die katholische Kirche“ und forderte eine vollständige Rücknahme dieser falschen Behauptung. Zwei Wochen später, am 21.2.1992, publizierte die katholische Zeitung eine ebenso formal korrekte wie formal gemeinte Entschuldigung. Es habe nicht in ihrer Absicht gelegen, Lindsey Collens Integrität, Ehre und Ruf in Frage zu stellen. Die Schriftstellerin akzeptierte diese Entschuldigung und ließ die Sache damit auf sich beruhen.

Heute stellt die Mauritius Times jedem ihre Seiten zur Verfügung, der die Autorin von „The Rape of Sita“ auf jede erdenkliche, wenn auch selten intelligente oder gar verständliche Weise angreift. Das ist bedauerlich. Aber warum müssen diese widerlichen Tiraden ertragen werden? Weil eben alle, die sich mit derart wüsten Attacken hervortun wollen, ein Recht darauf haben, zu denken – wenn sie denn denken – was sie wollen, und ihre Meinung frei zu vertreten. Daß sie unter Umständen wegen Rufmord und Diffamierung angezeigt werden können, steht auf einem anderen Blatt. Ihre Denk- und Redefreiheit kann und darf jedoch nicht aufgehoben werden. [...]

Was genau ist eigentlich Blasphemie? Dasselbe wie „ein empörender Angriff auf die öffentliche und religiöse Moral“? Was immer Blasphemie ist, eines ist sie – nach welcher Definition auch immer – in keinem Fall: ein Verstoß gegen die Bestimmungen des mauritischen Strafrechts. Paragraph 206 des Strafgesetzbuches bestimmt sogar ausdrücklich, daß „mit Anstand schriftlich oder anders ausgedrückte Meinungen“ keine Verletzung der „guten Sitten (darstellen) oder gegen öffentliche und religiöse Moral“ verstoßen.

In unerträglichem Maße ungerecht ist die Haltung der Behörden schon jetzt. Aber sie könnte in einem durchaus noch unangenehmeren Licht erscheinen, wenn wir uns folgende Fragen stellen: Was nämlich bedeutet es, wenn in Wahrheit nie ein echtes Verfahren angestrengt wurde, keinerlei konkrete Maßnahmen außer den völlig unangemessenen Verbotsdrohungen getroffen wurden oder werden? Oder sind die Untersuchungen im Fall Lindsey Collen gar abgeschlossen? Was haben sie ergeben? Werden Mitglieder der Nationalversammlung engagiert und mutig genug sein, eine parlamentarische Anfrage zur Klärung der Vorwürfe zu initiieren? Es ist merkwürdig, daß keiner unserer Vorkämpfer für Demokratie, religiöse und andere ewige Werte besonders daran interessiert ist, eine offizielle Antwort zu kriegen und sie auch uns mitzuteilen. Sehr merkwürdig, das macht einen irgendwie stutzig. Haben Regierung und Opposition den Fall vergessen oder hoffen sie auf unser kollektives Vergessen und ignorieren diese Fragen lieber? Soll „The Rape of Sita“ für immer verschwinden?

Vielleicht versuchen wir ja wirklich zu vergessen. So wie die tatsächlichen Vergewaltigungsopfer – vergeblich – ihre Ohnmacht und Demütigung zu vergessen versuchen. Oder werden wir uns immer daran erinnern, daß es Leute gibt, die sich das Recht nehmen, im Namen einer Religion Romane zu verbrennen und zu verbieten? [...]

Wir dürfen uns nicht wundern, daß viele Menschen Angst bekommen, wenn sie sehen, daß unser kürzlich offiziell ernanntes „Komitee der Weisen“ großzügig – und sogar im Vorsitz – mit religiösen Repräsentanten ausgestattet ist. Es wäre doch sehr beruhigend, wenn ein zweites Komitee „Mehr- oder-weniger-vernünftige-Leute“ (und ohne so viele religiöse Mitglieder) aus Jugend- und Altenorganisationen, Gewerkschaften, Frauen- und Medienorganisationen, Rechtsanwälten und NGO- Leuten geschaffen würde, die auf die „weisen Männer“ (wie viele Frauen sind dabei?) aufpassen könnten. Immerhin leben wir in einem säkularen Staat. Oder schon nicht mehr?

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