: „In Rumänien wollte ich sterben“
Vor fünf Jahren schoß ein Terrorkommando der Securitate dem damals 16jährigen Georghe Enache in die Beine / Mehr als dreißig Mal wurde er operiert, nun soll eine Behandlung in Deutschland helfen ■ Von Konrad Schwarz
Berlin (taz) – Der junge Mann liegt auf einer Bauchfahrerliege, einer Art Rollstuhl für Menschen, die aus medizinischen Gründen nicht mehr sitzen dürfen. Seine Beine sind vom Oberschenkel an amputiert. Sein Rücken und das Gesäß bestehen fast nur noch aus Narbengewebe. Zudem ist Georghe Enache von der Brust abwärts querschnittsgelähmt – Folgen eines Terroranschlages während der blutigen Revolution des Dezembers 1989.
Vor etwas mehr als fünf Jahren, am 22. Dezember 1989, hatten sich in Bukarest Teile des Militärs auf die Seite der Demonstranten geschlagen. Gemeinsam stürmten sie den Präsidentenpalast und besetzten die Rundfunk- und Fernsehstation. Nur wenige Stunden später wurde Staats- und Parteichef Nicolae Ceaușescu von einem Militärgericht zum Tode verurteilt und hingerichtet.
Doch während die Menschen ihren Sieg auf den Straßen von Bukarest feierten, flammten die Kämpfe in Temesvar, wo der Volksaufstand Mitte Dezember begonnen hatte, wieder auf. Terrorkommandos der Securitate zogen durch die Straßen und schossen wahllos auf Menschen. Zu ihren Opfern zählte auch Georghe – drei Tage nach seinem 16. Geburtstag. Er war mit seiner Schwester bei einem Onkel zu Besuch gewesen. Gegen 22 Uhr fuhren die drei zum Bahnhof, um eine Tante abzuholen. Auf einem Parkplatz warteten sie im Auto auf den Zug, als vier Securitate-Männer auftauchten und vorgaben, ihre Papiere kontrollieren zu wollen.
Als die drei die Türen ihres Autos geöffnet hatten, begannen die Geheimpolizisten zu schießen. Das Mädchen wurde an den Beinen getroffen, Georghe, der sich auf den Rücksitz geworfen hatte, am Rücken. „Die Männer schrien, daß wir aus dem Auto kommen und uns auf den Boden legen sollten. Mein Onkel zerrte mich aus dem Wagen und legte sich wie meine Schwester auf den Bauch. Mein Oberkörper war noch aufgerichtet, und als ich dem Offizier ins Gesicht blickte, schoß er auf meine Beine.“ Georghe wurde mit sechs Kugeln im Körper in ein Krankenhaus in Temesvar eingeliefert. Zwei steckten in seinem rechten Bein, vier im Rücken. Onkel und Schwester kamen mit Beinschüssen davon.
In dem völlig überfüllten Krankenhaus konnte man für Georghe nichts tun. Er kam nach Bukarest in ein ebenfalls überbelegtes Militärkrankenhaus. Unter nicht sterilen Bedingungen wurden die Kugeln aus dem Bein entfernt, was zu einer Blutvergiftung führte, und bei der Rückenoperation das Mark verletzt, so daß eine Querschnittslähmung eintrat. Nach drei Wochen gaben ihn die Ärzte auf und schickten ihn mit hohem Fieber „zum Sterben nach Hause“.
Die Eltern, die ihren Sohn nicht aufgeben wollten, brachten ihn in ein anderes Krankenhaus in Temesvar. Und dort hatte Georghe Glück: Ärzte des „Niedersächsischen Vereins für medizinische Entwicklungshilfe“, die sich gerade in Temesvar aufhielten, flogen ihn innerhalb von wenigen Stunden nach Hannover, wo ihm durch die Amputation des rechten Beines das Leben gerettet wurde. Außerdem behandelten die Ärzte ein riesiges Druckgeschwür, zurück blieben zwar große Flächen von Narbengeweben, doch schließlich konnte Georghe nach Rumänien zurückkehren.
Die Heilung war wegen mangelnder medizinischer Betreuung jedoch nur von kurzer Dauer. Eine Schädigung der Harnröhre trat auf und am linken Bein bildete sich ein Druckgeschwür. Georghe willigte in eine Hauttransplantation ein. Als er aus der Narkose aufwachte, war ihm statt dessen das zweite Bein abgenommen worden. Die Harnröhre konnte gar nicht behandelt werden. 20 Monate schoben die Ärzte Georghe zwischen verschiedenen Krankenhäusern hin und her, bis er mit Hilfe seines deutschen Freundes Johannes Klein, den er im Krankenhaus kennengelernt hatte, erneut nach Deutschland gebracht wurde.
Da Rumänien jedoch die für die Harnröhren-Operation notwendige Summe von über 210.000 Mark nur zum Teil übernahm, mußte Georghe Ende August dieses Jahres aus dem Krankenhaus entlassen werden. Freunde nahmen ihn in Bad Vilbel bei Frankfurt auf und Johannes Klein organisierte zusammen mit dem Pfarrer des Ortes eine Spendenaktion. Sie läuft auf vollen Touren. Die ganze Stadt scheint sich für den Rumänier zu engagieren. Auf dem Weihnachtsmarkt wurde Kartoffelsuppe zu seinen Gunsten verkauft und Gymnasiasten laufen von Haustür zu Haustür, um Geld zu sammeln. Georghe selbst ist in dem 26.000-Einwohner-Ort inzwischen bekannt wie ein bunter Hund. Täglich fährt er auf seiner Bauchfahrerliege durch die Stadt. „Das ist zwar anstrengend, aber so bleibe ich in Form“, sagt er.
Mehr als 30 Operationen hat der Querschnittsgelähmte bereits hinter sich. Einige davon verstümmelten ihn mehr, als sie ihm halfen. Depressionen waren die Folge. „In Rumänien“, erzählt er, „wollte ich sterben. Dreimal habe ich versucht, mich umzubringen. Aber nun habe ich begriffen, daß das Leben auch im Rollstuhl schön sein kann. Es ist eben ein anderes Leben als früher.
Spenden an „Verein für Kranken- und Gemeindepflege“, Konto-Nr. 101026798, Bad Vilbeler Volksbank, BLZ 51861325, Kennwort: Hilfe für Georghe
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