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1992 fing die Belagerung der Stadt an, 20.000 Menschen wurden getötet, Zehntausende verletzt, Tausende flohen, Tausende Flüchtlinge kamen. Was hat sich seit 1992 in Sarajevo verändert? Ein nichtsystematisches Resümee Von Erich Rathfelder

1.000 Tage Belagerung von Sarajevo

Vielleicht, nein, ganz bestimmt, ist Sarajevo in den letzten tausend Tagen zum Experimentierfeld geworden. An den 400.000 Bewohnern der Stadt wird getestet, was Menschen in extremen Situationen alles auszuhalten imstande sind. Selbst Leningrad, das Symbol des Widerstandes gegen Hitler, wurde im Zweiten Weltkrieg weniger lange belagert als Sarajevo heute. Leningrad konnte nach 900 Tagen von der Roten Armee befreit werden. Für Sarajevo besteht die Aussicht auf Befreiung so schnell nicht.

Seit dem ersten Hungerwinter, 1992/93, haben die Menschen in Sarajevo durchschnittlich zwanzig Kilo abgenommen. Sie haben Hunderttausende von Granaten explodieren sehen, werden ständig von Heckenschützen belauert. 20.000 sind zu Tode gekommen, Zehntausende wurden verletzt, und die Hoffnung auf entscheidende Hilfe durch die Außenwelt haben die Menschen, die geblieben sind, längst aufgegeben. Ihrem Schicksal überlassen sie sich dennoch nicht. „Wir müssen eben auf unsere eigene Kraft vertrauen.“ Die Verteidigung der Stadt ist organisiert. Alle Bewohner, Männer und Frauen zwischen 16 und 60 sind in irgendeiner Weise mobilisiert – und sei es nur, daß sie ihren gewöhnlichen, aber kaum mehr entgoltenen beruflichen Pflichten nachgehen. Trotz der Kriegssituation bemüht man sich darum, „normal“ zu bleiben: Die meisten führen ein geregeltes Familienleben, zeugen Kinder, ziehen sich, so weit dies möglich ist, schick an, gehen in Konzerte und Ausstellungen, treiben sich in Kneipen rum, jagen nach dem schnellen Geld oder versuchen einfach, etwas zum Essen oder Heizen aufzutreiben.

Nach tausend Tagen Belagerung hat sich Sarajevo verändert. Und doch sind die Bewohner zäh darin, den Geist der Stadt, ihre unglaubliche Freundlichkeit, ihre Toleranz, ihren Witz und einfach ihre Persönlichkeit nicht aufzugeben. Auf den ersten Blick ist ihnen auch nicht anzumerken, was innerlich an ihnen nagt. Die Angst werde von den meisten überspielt, behaupten die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen. Die Kinder sind ernst und aufmerksam, in gewisser Weise erwachsen geworden. Die traumatischen Symptome, so die Psychologen, werden bei den meisten erst im Frieden zu bemerken sein. Der Druck des Krieges preßt der Psyche einen Deckel auf.

Die Erfahrungen des Krieges, des allgegenwärtigen Todes, beeinflussen viele auch in anderer Weise. Manche Gebrüder Leichtfuß sind zu Mitbürgern geworden, die Verantwortung übernehmen. Das Wir-Gefühl hat sich stärker etabliert, als es manche vor dem Kriege für möglich hielten. Als selbstverständlich wird gehandelt, daß Nachbarn und Freunde das letzte Essen, die letzten Güter teilen und weitergeben. Daß die Korruption zugleich um sich greift und Geschäftemacher des Schwarzmarktes sich goldene Nasen verdienen, widerspricht dem nicht unbedingt. Denn ein Teil dieses Reichtums wird über die Familien der Händler und Nachbarschaftshilfe wieder umverteilt.

Viele haben sich den Religionen zugewandt. Das Leben im Angesicht des Todes läßt oberflächliche Lebensweisen nicht mehr zu. Die Religion bietet einen Ausweg und damit Hilfe an. In ihr wird von vielen die Identität gefunden, die in den modernen Zeiten nicht nur in Sarajevo verlorenging. Insbesondere bei den Muslimen ist ein Wandel eingetreten. Vor dem Krieg galten nur fünf Prozent der muslimischen Bevölkerung als religiös – heute spielt Religion für die muslimische Selbstdefinition eine größere Rolle.

Daß dieser Prozeß in Europa als Islamisierung, gar als Aufstieg eines neuen Fundmentalismus interpretiert und gegen den Überlebenswillen der Stadt gewendet wird, schmerzt. „Warum will man nicht verstehen, daß es einen bosnischen, einen europäischen Islam gibt und daß Sarajevo die humanen und demokratischen Werte Europas verteidigt?“, ist die immer wiederkehrende Frage, die dem Besucher gestellt wird. So wie der spanische, polnische, irische, kroatische und bosnische Katholizismus stehe auch der Islam in Wechselwirkung mit der Gesellschaft, einerseits identitätsstiftend, andererseits von ihren Werten und Eigenarten geprägt. Der Islam in Bosnien unterscheide sich eben vom Islam in Algerien, Albanien oder Indonesien, wobei es noch unterschiedliche Strömungen innerhalb der Religion in jeder Gesellschaft gibt. Wenn es selbst zwischen bosnischen und kroatischen Katholiken Differenzen gibt, warum akzeptiert man dann die im Islam nicht?

Auch werde nicht anerkannt, daß die bosnische Gesellschaft sich weiterhin als multinational und multireligiös versteht. Sicherlich – die Zuwanderung von weit über 100.000 Vertriebenen aus den ostbosnischen Landstrichen, aus den Regionen um Foca und Srebrenica, Goražde und Zepa, von muslimischer Landbevölkerung eben, hat die demographische Zusammensetzung innerhalb der Stadt zugunsten der Muslime verändert. Ihr Anteil ist mit dem Krieg von 50 auf 80 Prozent gestiegen. Die Abwanderung eines Teils der Serben, Kroaten und Juden aus der Stadt hat zur Veränderung der Atmosphäre ebenfalls beigetragen. Aber diese Veränderung entspricht keineswegs dem Willen der Mehrheit in Sarajevo. Man versteht zwar, daß jene, die gehen konnten, unter den Umständen des Krieges gegangen sind, aber man begreift es als einen Verlust für die Stadt.

Die Raja, der Kern der Stadtbevölkerung, dieses Konglomerat aus alten Familien, Intellektuellen, Künstlern, diese Gemengelage, deren Traditionen und ungeschriebene Regeln den Geist der Stadt prägen, hat darüber in der Tat an Gewicht verloren. Daß seit dem letzten Sommer die muslimische Bevölkerung offiziellerseits als „Bosniaken“ bezeichnet wird, die in der Stadt noch verbliebenen Katholiken, Orthodoxen und Juden aber nicht, hat zu heftigen Debatten geführt. Die Definition grenze ab, sei das erste Anzeichen für einen muslimischen Nationalismus, der die Macht im Staate und der Gesellschaft übernehmen will, behaupten die Kritiker. Auch deshalb werden jene, die die Stadt verließen und nun im Exil ihr „Bestes für die Stadt und Bosnien geben“, von den Gebliebenen kritisiert. Das Weggehen wird von jenen, die dageblieben sind, als Verrat empfunden, auch weil es die Gewichte innerhalb der Stadt verschoben hat.

Selbst in das Verhältnis der Geschlechter hat die Kriegserfahrung eingegriffen. Vor allem das Selbstverständnis der Männer wandelt sich. Sarajevo war schon im ehemaligen Jugoslawien ein besonderer Fall. Waren die männlichen Leitbilder in Serbien und abgeschwächt auch in Kroatien an den herkömmlichen Kategorien des Starken orientiert, so galt das für die bosnische Gesellschaft nur bedingt. Die muslimischen Männer wurden von jeher als sanft beschrieben. Ihr Leitbild war mehr an Intellektuellen und Künstlern orientiert als am Krieger.

Nach einem Jahr der Verteidigung wurden diese Werte in Frage gestellt. „Wollen wir Palästinenser oder lieber Israelis“ sein – so lautete vor allem im Jahre 1993 die Zuspitzung in manchen Kommentaren der Wochenpresse. Man solle sich nicht dem Schicksal ergeben, wurde gefordert, sondern, wie es die Juden in Israel vorgemacht haben, durch Intelligenz und Wagemut als Minorität in einer feindlichen Umwelt bestehen. Nicht mehr der kleine und gebeugte Muselman sollte das Selbstverständnis sein, sondern der durchtrainierte, sportliche und kämpferische Mann. Die Mobilisierung fast der gesamten männlichen Bevölkerung in der bosnischen Armee führte in vielfältiger Weise zu einem militärischen Kompetenzgewinn. Mußten am Anfang des Krieges lose Haufen von Freiwilligen mit zusammengestoppelten Waffen unter höchstem Risiko gegen eine funktionierende feindliche Armee antreten, so haben sich die Aufgaben jetzt differenziert. Wie sich das auf die Rolle der Frau auswirkt, bleibt abzuwarten.

Die serbische Gesellschaft war schon immer am Leitbild des Kriegers orientiert. Die Frauen hatten es schwer, den traditionellen Rollenzuweisungen zu entkommen und zumindest vereinzelt in der gesellschaftlichen Stufenleiter hochzuklettern. Fortschritte in dieser Richtung hat der Krieg verkümmern lassen. In Kroatien hatte sich das Rollenverständnis vor dem Kriege schon weiter gewandelt. Hier war es einigen Frauen schon gelungen, nicht nur als Journalistinnen, sondern auch in Politik und Wirtschaft, in leitende Stellungen zu gelangen. Mit dem Krieg verkümmerten diese Fortschritte allerdings auch in Kroatien, bekannte intellektuelle Frauen wurden sogar ganz offen als „Hexen“ tituliert und aus ihren Stellungen vertrieben.

In Sarajevo und in Rest-Bosnien scheint diese Art der Regression schwächer ausgebildet. Zwar waren hier ähnlich wie in Serbien die Frauen in den traditionellen Berufssparten festgehalten, die Aufstiegsmöglichkeiten waren wie in den anderen Landesteilen Jugoslawiens während der Zeit des Sozialismus für sie gering. Vielleicht noch ausgeprägter als den Frauen in Serbien und Kroatien, ist es ihnen innerhalb der bosnischen Gesellschaft jedoch gelungen, die Fäden im Hintergrund zu ziehen. Daß die systematischen Vergewaltigungen bosnischer, vor allem muslimischer Frauen durch serbisch-nationalistische Soldaten darauf zielt, den Kriegsgegner in seiner „Ehre“ zu treffen, ist zwar nicht von der Hand zu weisen. Bosnische Frauen interpretieren die Erniedrigung der Frauen weitergehend. Die Gewalt gegen Frauen solle auch die kulturell tragende Rolle der bosnischen Frauen in ihrer Gesellschaft zerstören und sei einer der Schritte zur angestrebten Vernichtung der bosnischen Identität und Gesellschaft überhaupt.

Die Frauen empfinden es als Erleichterung, daß die Männer seit dem Sommer 1993 besser bewaffnet und organisiert sind. Der Wandel im Leitbild des bosnischen Mannes wird so als eigenes Interesse definiert. Es wird in Sarajevo kaum eine Frau geben, die den Männern die Verweigerung des Kriegsdienstes nahelegt. Das Überleben aller hängt von den Fähigkeiten zur Verteidigung ab, wie gerade in Bihać zu erfahren ist.

Dies um so mehr, als Hilfe von außen nur im Rahmen der humanitären Hilfe zu erwarten ist. Nach all den Erfahrungen mit den internationalen Vermittlern, mit der UNO, der Nato und der Europäischen Union, sind die Hoffnungen einer realistischen Betrachtungsweise gewichen. Die Bosnier mußten erkennen, daß die Außenwelt kein Verständnis für ihre Gesellschaft aufbringt, daß sie die Macht der Gewehre und den Nationalismus höherstellt. „Wenn wir dies alles überstanden haben, werden Menschen hier leben, die durch nichts und niemandem mehr manipulierbar sind“, ist für manchen, nach tausend Tagen Belagerung, die Moral aus der Geschichte.

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