: Diktat nach bekanntem Muster
■ betr.: „Mehr Mauer-Schein als Sein“, taz vom 16.12.94
[...] Der taz-Aufruf zum Bilder- und Denkmalsturm an der sogenannten East-Side-Gallery ersetzt die kritische Auseinandersetzung mit unerwünschten Bau- und Kunstzeugnissen der Berliner Geschichte wieder einmal durch ein Diktat nach bekanntem Muster: Reißt du meine Mauer ein, reiß' ich deine Mauer ein – Stadtschloß um Palast der Republik – Bauakademie um Staatsratsgebäude...
Seit 1989/90 ist freilich nicht nur die kunstsinnige Zeit vorbei, als alternative Stadtführer unisono mit der amtlichen Berlin-Information zu einem Freilichtausstellungsbesuch an die „längste Wandzeitung der Welt“ einladen konnten, sondern abgeschlossen erscheint auch eine historische Epoche, der die über 40 Kilometer lange Mauer zu einem Sinnbild wurde. Die Erinnerung daran ist bei Detlef Kuhlbrodt noch quicklebendig – schließlich bezieht der ganze Beitrag seine suggestive Überzeugungskraft aus dem Ost-West-Gegensatz, der heute angeblich Hätschelkinder im Osten verwöhnt und Schmuddelkinder im Westen vernachlässigt. Im Stadtbild freilich ist die Erinnerung an die Berliner Mauer und die Weltordnung der Nachkriegszeit nur noch mühsam lebendig zu halten. Der stadträumlich vielleicht beeindruckendste Erinnerungsposten ist da der Mauerabschnitt an der Mühlenstraße zwischen Hauptbahnhof und Oberbaumbrücke, „East- Side-Gallery“ genannt.
Die Eintragung des Mauerteilstücks ins Denkmalbuch erfolgte 1991 also nicht wegen der dort entstandenen Bilderproduktion, sondern umgekehrt wird vielleicht ein Schuh daraus: Ohne die Ausgestaltung und Präsentation als sogenannte East-Side-Gallery wäre es diesen 1,3 Mauerkilometern in den Wendemonaten vermutlich genauso ergangen wie den restlichen rund 42 Mauerkilometern, die in der ersten Vereinigungseuphorie „genommen“ und in alle Welt verstreut wurden. Die in vielerlei Hinsicht wohlkalkulierte Bemalung durch über 100 Menschen aus Ost und West schuf für das Bauzeugnis des Kalten Krieges eine Art Überlebensnische, ohne die ein Denkmalabschnitt der Mauer von dieser Länge kaum die Begeisterung und Turbulenzen der Vereinigung bis heute unbeschadet überstanden hätte.
Die Entstehungsbedingungen der sogenannten East-Side-Gallery werfen freilich ein bezeichnendes Licht auf die – inzwischen abgeklungene – Auf- und Abbruchstimmung, die die Maueröffnung nicht nur in Berlin auslöste. Das reicht von aus dem Bauch gemalten Friede-Freude-Eierkuchen- Motiven oder Reklamemalerei in eigener Sache über mehr oder minder reflektierte Beiträge, die das Medium Mauermalerei gezielt im öffentlichen Stadtraum nutzen, bis zu ausgesprochen gelungenen Arbeiten, die an Beiträge der internationalen Wandbild- oder Graffiti- Kunst anknüpfen und dabei nicht zuletzt ein Stück West-Kunst im ehemaligen Osten repräsentieren.
Wie spontan und improvisiert 1990 fast alle Bilder der sogenannten East-Side-Gallery – gewollt oder ungewollt – entstanden sind, das erweist sich an den für Ewigkeitskulissen unter freiem Himmel zumeist völlig ungeeigneten Herstellungstechniken. Dem Malgrund und der Malschicht der sogenannten East-Side-Gallery ist ihre Vergänglichkeit gewissermaßen eingeschrieben. Die nunmehr ins Auge gefaßten Schutzmaßnahmen sollen und wollen nicht einfach die Bilderwand von 1990 konservieren oder gar restaurieren, sondern könnten die Erhaltung eines nach der Wende auch von Westberliner MauerkünstlerInnen anverwandelten Mauerreststücks ermöglichen. Ehe nun die Freunde der authentischen, weil wahrhaft „sozialen Alltagskunst“ zum Sturm auf die East-Side-Gallery blasen, sollten die Bilder- und Denkmalstürmer zunächst einmal beim Einreißen der Mauer in den (eigenen) Köpfen Hand und Verstand anlegen. In diesem Sinne wollen wir auch Sie in unser denkmalpolitisches Nachtgebet einschließen. Jörg Haspel,
Senatsverwaltung für Stadtent-
wicklung und Umweltschutz
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