piwik no script img

■ Rußlands desaströse Politik gegenüber Tschetschenien ist Produkt eines kurzatmigen innenpolitischen KalkülsDanke, Boris!

Wo die Durchsicht stark behindert ist, ist man für jeden Hinweis dankbar, der Orientierung verspricht. In dieser Hinsicht ist der neue Kaukasus-Krieg von Nutzen. Die in ihrer Wirkung verheerenden und in der Durchführung hilflosen Aktionen russischer Truppen, die seit Wochen den „Ring um Grosny“ immer enger schließen, um ein paar gesetzwidrig operierende Banden zu entwaffnen, lassen sich im Westen offenbar als Sendboten eines neuen alten russischen Imperialismus verstehen. Während in vielen Staatskanzleien der Nato-Länder die Feiertagswachen unruhig von einem Fuß auf den anderen treten, weil es ihnen die Fernsehbilder aus Tschetschenien schwermachen, die realpolitische Version der „innerrussischen Angelegenheit“ durchzuhalten, stimmen viele Medien die Öffentlichkeit auf Altbekanntes ein: Seht her, die Russen hauen wieder drauf. Erst die Unwilligkeit des Außenministers Kosyrew, die Partnerschafts- Dokumente mit der Nato zu unterzeichnen, dann Jelzins Widerworte beim KSZE-Gipfel in Budapest, gefolgt vom russischen Veto im UN-Sicherheitsrat in Sachen Bosnien – und nun also ein „neues Afghanistan“ im Nordkaukasus. Hat man es nicht schon immer geahnt? Sie machen in Perestroika und Systemwechsel, geben sich gar hilfsbedürftig, aber tatsächlich stiften sie immer wieder Unruhe, und integrierbar sind die eh nicht. Diese Sicht fügt sich fabelhaft in allerlei Sinnsuche westlicher Organisationen, die mit einer fragmentierten, sich zugleich integrierenden und zerlegenden Welt nicht zurechtkommen.

Nur: Die Realität ist viel ernüchternder, und kein Rückzug in gewohnte Lagermentalitäten kann sie überlisten. In Moskau interessiert sich in Wirklichkeit kaum jemand für den Kaukasus, und auch dort wußten bislang nur wenige, wo Tschetschenien genau liegt. Die Tschetschenen, ja, die kennt man aus den Metropolen als Händler und vorwiegend mafiöse Figuren, doch wer im Ernst würde dort hingehen, um sich in Gefechte verwickeln und in Zinksärgen heimfliegen zu lassen? Alle nachträglichen Rationalisierungen gehen in die Irre: Ja, die einzige Süd-Nord-Ölleitung führt durch Tschetschenien, aber das ist nicht erst seit November 1994 bekannt, und Umleitungen sind im Bau. Gewiß, aufständische Provinzen mit separatistischen und verfassungsfeindlichen Eliten sind unbequem, doch war der seit 1991 geltende Status quo tolerabel, und ein Deal hätte sich erreichen und in einem unsinnigen, aber zufriedenstellenden Vertrag (Muster: Tatarstan) fixieren lassen.

Die realen Motive und Entscheidungsprozesse sind die unspektakulären. Dazu muß man wissen, daß es zwei Fragen gibt, die die Apparate, Lobbies und Eliten in Moskau wirklich beschäftigen: das Gerangel um Ressourcen und Eigentumstitel und die Positionskämpfe vor den kommenden Präsidentschaftswahlen. Alles andere sind Girlanden.

Mit Blick auf die nächsten Wahlen, die 1995, 1996 oder Gott weiß wann stattfinden mögen, stellte selbst der Präsident im Herbst fest, daß seine Chancen schlecht sind und wöchentlich schlechter werden. Ein Teil seiner engsten Berater, die ihn auch informationsmäßig aufbereiten, drängte ihn, sein rating durch patriotische Übungen zu verbessern – wie auch anders, da das „demokratische Elektorat“ und die paar verbliebenen Musterdemokraten keine wie immer tragfähige politische Basis mehr abgeben. Eine solche patriotische Geste sollte groß verpackt werden, nach dem Muster der „historischen Entscheidungsschlachten“ im August 1991 (gegen die Putschisten der alten Nomenklatura) und im Oktober 1993 (gegen die Putschisten der neuen Nomenklatura), mit Jelzin als Lichtgestalt: unbeugsam, siegreich, vom Volk getragen. Zugegeben, die tschetschenischen Putschisten vom November 1994 machen vergleichsweise weniger her, aber einen Versuch schien es wert.

Eine kurze, siegreiche Polizeiaktion gegen ungesetzliche Formationen und einen wenig sympathischen Waffen- und Drogenschieber mit Schnurrbart, gestützt auf antikaukasische Sentimente in den russischen Großstädten, das hätte es sein sollen. Herausgekommen ist ein Desaster in jeder Hinsicht. Die politische Lage für Jelzin hat sich noch weiter verschlechtert – aus politischen Kalkülen heraus stützen ihn weder „Demokraten“ noch „Patrioten“, mit wenigen Ausnahmen. Die militärische Performance ist grotesk: Angeblich 40.000 russische Truppen aus der angeblich zweitstärksten Armee der Welt demonstrieren, wie man einen raschen Feldzug gegen einen weit unterlegenen Gegner in ein Desaster verwandelt. Offene Insubordination höchster und mittlerer Offiziere im Dutzend, Fraternisierungen vor Ort, geordneter Überlauf von Wehrpflichtigen in die Gefangenschaft, Verkauf von Waffen und Munition an den Gegner, Konfusion zwischen Armee und Sicherheitsdienst, politische Ranküne um Kriegsgefangene usw. – aus diesem Bild werden die näheren und ferneren Nachbarn Rußlands wie auch die eigenen regionalen Eliten ihre Schlüsse ziehen. Die richtigen? Die Opferbilanz ist katastrophal, und das Etikett vom neuen Afghanistan klebt fest. Das internationale Echo lenkt den Blick der Öffentlichkeiten in eine Region, in der Rußland kaum noch wirksam handlungsfähig ist, aber doch hilflos herumfuhrwerkt.

Was lehrt uns das alles? Wir haben es in Moskau mit Akteuren zu tun, die aus kurzfristigen und rein innenpolitischen Kalkulationen heraus Aktionen produzieren, die sie weder übersehen noch wirklich steuern können. Wir blicken in einen Abgrund von Ohnmacht, nicht in eine Demonstration neuer Großmächtigkeit. Nach innen wollen der russische Präsident und seine wenigen Getreuen Stärke simulieren, und die Partner im Westen tun so, als akzeptierten sie das augenzwinkernd. Sie imitieren dabei ein Verständnis der Lage, das ihnen zumeist jedoch abgeht. Auf allen Seiten wird Krisenmanagement simuliert, während die Lage weitgehend out of control ist. Und damit auch von außen kaum zu beeinflussen.

Selbstläufe und Fragmentierungen dieser Art sind es, auf die wir uns auch künftig einzustellen haben. Dabei dürfen wir immerhin wählen, ob wir das Verständnisraster traditioneller Machtpolitik wählen oder den intellektuell mühsamen Versuch unternehmen, den Kern von Wandlungsprozessen zu verstehen, die unbequem sind, weil sie weder in die bekannten Schubladen passen noch wirklich zu steuern sind. Das ist jetzt deutlicher geworden: Danke, Boris! Klaus Segbers

40.000 mal Danke!

40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen