Untergang mit starker Hand

■ Der Tschetschenien-Krieg offenbart ein unglaubliches Chaos in der russischen Führung: Jelzin versucht sich als Volksheld, die überwältigende Ablehnung des Krieges scheint ihm gar nicht bewußt zu sein. Aber im...

Der Tschetschenien-Krieg offenbart ein unglaubliches Chaos in der russischen Führung: Jelzin versucht sich als Volksheld, die überwältigende Ablehnung des Krieges scheint ihm gar nicht bewußt zu sein. Aber im Chaos zeigen sich auch Lichtblicke.

Untergang mit starker Hand

Mit jedem Tag nimmt die Gewißheit zu: Rußlands Strafexpedition in die nordkaukasische Republik Tschetschenien wird aus anderen Motiven gespeist als nur dem Bedürfnis, in dem abtrünnigen Flecken die Verfassungsordnung wieder herzustellen. Schon jetzt ist Grosny ein Trümmerhaufen – über Jahre wird kein normales Leben zurückkehren. Am Stadtrand brennt die Raffinerie, ein Ölfilm liegt auf dem Schnee, der einzigen Trinkwasserquelle, die der terrorisierten Bevölkerung geblieben ist. Unweit der Raffinerie stehen Tanks mit Ammoniak und Chlor. Werden sie getroffen, ist das nicht das Ende Grosnys, sondern der gesamten Region. Moskau spielt nicht mehr nur mit Feuer, atavistische Züge treten hervor. Wer die Minister des Inneren, der Verteidigung und des Föderalen Sicherheitsbüros bei ihrer Pressekonferenz im nordkaukasischen Operationszentrum der Armee sah, mußte den Eindruck gewinnen, eine Lösung des Konflikts mit möglichst wenigen Opfern liege gar nicht in ihrem Interesse. Sie bauen einen Gegner als Schreckensfigur auf, den Verteidigungsminister Pawel Gratschow noch vor wenigen Wochen mit einer Eliteeinheit aus Fallschirmspringern kurzerhand außer Gefecht setzen wollte! An der Stärke des Gegners hat sich seitdem nur eins geändert: Das Volk kann wählen, mit der Waffe in der Hand oder durch russische Bomber zu sterben. Die Entscheidung fällt da leicht.

Das demokratische Spektrum bricht mit Jelzin

Rußlands Öffentlichkeit wird allmählich unruhig. Warum stehen unerfahrene Wehrdienstleistende in der ersten Linie der Front? Wo bleiben die Spezialkommandos? Warum ist die politische Führung gezwungen, Lügen zu erfinden, wenn der Krieg dem Zwecke dient, die Verfassung zu verteidigen?

Rußlands demokratisches Spektrum hat sich endgültig von Präsident Jelzin losgesagt. Als letzter prominenter Reformer kündigte der ehemalige Finanzminister Boris Fjodorow seine Gefolgschaft auf. Er hatte den Feldzug anfangs noch gerechtfertigt: „Die einzige Chance des Präsidenten, seine Würde bis zu den nächsten Wahlen zu wahren, besteht darin, in Tschetschenien Ordnung zu schaffen. Aber er hat dabei seine Ineffizienz gezeigt“, kommentierte der Vorsitzende der Dezemberfraktion in der Staatsduma seinen Rückzug. Sollte der Krieg noch einen Monat andauern, werde er ein Mißtrauensvotum gegen die Regierung beantragen. „Und wenn sie eine Amtsenthebung diskutieren – warum nicht?“ Tags zuvor machte auch der bekannteste Reformer, Jegor Gaidar, keinen Hehl aus seiner Abkehr. Seit Beginn des Krieges war es ihm nicht mehr gelungen, mit Jelzin telefonisch Kontakt aufzunehmen.

Nur die äußerste Rechte begrüßt den Krieg

So etwas hatte es trotz aller Schwierigkeiten zwischen beiden Politikern nie gegeben. Gaidar nahm es als Zeichen für Jelzins bewußten Abschied von den liberalen Kräften im Lande. Und selbst der Fraktionsvorsitzende der Kommunisten, Gennadij Sjuganow, verurteilte das Vorgehen. Jegor Jawlinski, der Kopf der Reformfraktion Jabloko, hat seine Gegnerschaft zu Jelzin schon im Vorfeld des Krieges erklärt.

So bleibt der Präsident ohne jegliche Unterstützung aus dem Reformlager. Jelzins Weigerung, vor den Dumawahlen im Dezember 1993 eine Präsidentenpartei zu gründen, wurde schon damals von Liberalen mit äußerster Skepsis aufgenommen. Jelzin bestand auf seiner Rolle als „Vater aller Bürger Rußlands“. Heute fehlt ihm der gesellschaftliche Rückhalt.

Seine Bundesgenossen sitzen ausgerechnet in der äußersten Ecke der Chauvinisten und Antisemiten. Anerkennende Worte fand der Vorsitzende der Liberaldemokraten, Wladimir Schirinowski. Doch wären die Rechten die letzten, die Präsident Jelzin in bedrängten Zeiten unterstützten. Sie warten geduldig auf seine Selbstdemontage.

Allerdings besitzt die „Kriegspartei“ keine Mehrheit in der Bevölkerung, die sich täglich entschiedener gegen die Dummheit der Führung zu Wort meldet. Das sind Momente der demokratischen Entwicklung, die Jelzin vorangetrieben hat. Heute gehört er schon der Vergangenheit an. Eine Alternative zu ihm war lange Zeit nicht in Sicht – das innenpolitische Chaos könnte jetzt die Profilierung neuer Führungsgestalten beschleunigen. In Rußland herrschte gewöhnlich der, dem die Armee wohlgesonnen war. Doch wo steht die Armee zur Zeit? Der Widerstand verschiedener Generäle, Abdankungen, Ungehorsam und dergleichen offenbarten ihren Zwiespalt. Und das angesichts einer Ausgangsbedingung, die für ihre finanzielle und gesellschaftliche Rolle, sprich Aufwertung, keinesfalls von Nachteil ist.

Unabhängig vom Ausgang des Krieges sehen die Konsequenzen für Rußland trübe aus. Zieht sich der Unsinn in die Länge, wachsen die Kosten ins Unermeßliche. Das Budget übersteigt binnen Monatsfrist den angepeilten Sparrahmen. Schwerer wiegt allerdings das verspielte Vertrauen in die Mechanismen der Demokratie. Ohnehin trauten die Russen dem nur zaghaft, die Tradition hielt zu viele Gegenbeweise parat. So stellte man denn auch offen die Frage: Wenn der Kreml mit einer Diktatur oder zumindest einem Regime der starken Hand liebäugelt, warum sagt man das nicht frei heraus? Müssen deswegen Tausende sterben?

Die Presse, Feind Nummer eins, gibt nicht nach

Jelzin scheint nur noch gefilterte Informationen aus Kreisen der Sicherheitspolizei zu erhalten. Teile seiner Rede ans Volk, die von Verschwörungstheorien wimmelte, deuten in diese Richtung. Leute wie sein Chef der Leibgarde, Alexander Korschakow, und der Vorsitzende des Sicherheitsrates, Oleg Lobow, Kampfgefährten aus kommunistischen Zeiten, führen ihm heute die Feder. Vermutlich werden sie alle mit ihm untergehen.

Denn das Rad läßt sich so einfach nicht zurückdrehen. Die Presse, Feind Nummer eins, gibt nicht nach. Sie verlangte von Jelzin eine Erklärung seiner Ausführungen, ohne tschetschenisches Geld würden die Massenmedien nicht mehr funktionieren. Man nimmt kein Blatt mehr vor den Mund. Auf einmal finden sich Menschen, deren Existenz man in den von Korruption und Kriminalität geprägten Umständen nicht für möglich gehalten hätte. Wie Sergej Kowalow, den Menschenrechtsbeauftragten, der sich in Grosny mit Parlamentariern eingegraben hat. Oder ein Militärstaatsanwalt, der sich weigert, die Machenschaften des Geheimdienstes zu decken und Leichen russischer Söldner einfach zu verscharren. Von ihnen gibt es immer mehr. Sie bewahren die Hoffnung auf eine Katharsis. Klaus-Helge Donath, Moskau