■ In Tschetschenien zeigt sich die Hilflosigkeit des Kremls: Blindwütiges Gemetzel
Zunächst nannte es Moskau eine „Polizeiaktion“. Dann sah man sich zu einem „chirurgischen Eingriff“ genötigt. Auch Chirurgen können fehlen, wie man weiß. Doch post mortem bleibt die sterbliche Hülle des Patienten unversehrt. Pietät gebietet es. Was der Kreml in Tschetschenien veranstaltet, hat nichts mehr mit einem therapeutischen Eingriff gemein. Das Geschwür des Verbrechertums, das der Kreml im Vorfeld mit quasi mystischen Bildern und Gleichnissen entwarf, hat sich längst aus Grosny davongestohlen. Wenn es überhaupt jemals annähernd den Tatsachen entsprach. Die Tschetschenen kämpfen um ihr Land, ihre Familie, ihre Ehre und für Allah. Selbst Dudajew könnte sie nicht mehr aufhalten. Ein Tschetschene kapituliert nicht. Fällt er im Kampf, rückt ein Familienmitglied an seine Stelle. So setzt es sich fort bis zum bitteren Ende. Alternativen verbietet die Tradition. Erst jetzt dämmert es Moskau. Die Unkenntnis des Gegners – aus Menschenverachtung geboren – versucht es nun zu kompensieren: mit Menschenverachtung gegenüber dem eigenen Volk, den Russen.
Je deutlicher der politischen Führung das Mißlingen des Krieges vor Augen tritt, desto wütender, militärisch sinnloser und barbarischer werden die Attacken. Selbst eigene Verluste zählen nicht mehr. Bald dürften zweitausend junge Russen gefallen sein. Egal, denkt man im Kreml. Unweigerlich regt sich Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, als Stalin den Gegner überrannte, aber Hunderttausende, wenn nicht Millionen überflüssig in den Tod schickte, weil es dem Generalissimus an strategischem Geschick und Planung fehlte. Nicht zufällig wissen die meisten Russen bis heute nur wenig über dieses unrühmliche Kapitel des „Großen Vaterländischen Krieges“. Nun schafft Moskau sein eigenes Stalingrad. Der Kampf um jedes Haus hat begonnen. In Grosny jedoch geht es nicht um Ideologien, das Überleben eines kleinen, immer wieder gedemütigten Volkes steht auf dem Spiel. Der Widerstand wird sich auf lange Zeit nicht brechen lassen. Bald wird er auch kein Erbarmen mehr kennen. Russischen Soldaten, so ist aus Bildern des privaten russischen Fernsehens zu schließen, waren geradezu erleichtert, in Gefangenschaft zu geraten. Besser als verheizt zu werden, und ihre Mütter flehen darum.
Die Erhaltung der territorialen Integrität Rußlands, die, anders als die Propaganda unaufhörlich behauptet, nie ernsthaft gefährdet war, legitimiert keinen Genozid – auch nicht als interne Angelegenheit. An die Wiederherstellung der verfassungsrechtlichen Ordnung nach einem Vernichtungsfeldzug glaubt selbst der Kreml nicht mehr. Wer würde ihm im Kaukasus noch trauen? Moskau hat bewiesen, daß das höchste Gut, die Würde des Menschen, ein wohlfeiler Westimport ist. Ohnehin hat es die Chance verwirkt, den Kaukasus zu befrieden. Der Westen muß intervenieren – nicht aus Machtgelüsten, sondern im Interesse universeller Werte und nicht zuletzt, um den Kreml vor sich selbst zu schützen. Sonst richtet er Rußland noch zugrunde. Klaus-Helge Donath
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