: „Ich befürchte einen politischen Klimasturz“
■ Norbert Gansel, SPD-Bundestagsabgeordneter, kritisiert die Haltung der Bundesregierung zu Tschetschenien, aber auch die Linke kommt bei ihm schlecht weg
taz: Juri Affanassjew hat in einem taz-Interview die „Ruhe des Westens“ angesichts der Geschehnisse in Tschetschenien als „völlig unerträglich“ bezeichnet. Außenminister Kinkel hat nun den Ausschuß Humanitäre Hilfe zu sich eingeladen. Kann der Westen in Tschetschenien nur humanitäre Hilfe leisten?
Norbert Gansel: Es ist richtig, für die Opfer in Zivil und Uniform humanitäre Hilfe anzubieten, wie wir es mehrfach gefordert haben. Es bleibt falsch, daß auf öffentlichen politischen Druck gegenüber der russischen Regierung verzichtet worden ist. Schlimm ist, daß die europäische Linke den demokratischen Kräften und besonnenen Militärs in Rußland so wenig solidarische Hilfe bei ihren tapferen Versuchen gegeben haben, die Kriegsmaschinerie anzuhalten. Im Kaukasus gibt es massive Verletzungen von Menschen- und Minderheitenrechten. Es steht aber auch die Vertrauenswürdigkeit der russischen Außenpolitik auf dem Spiel, die Funktionsfähigkeit der OSZE, die Zukunft der Abrüstung, die Entwicklung der russischen Demokratie. Das Verhältnis zur islamischen Welt wird sich durch die brutale Sprache Moskaus und das Schweigen in den westlichen Hauptstädten weiter verschlechtern.
Als die jugoslawische Armee in Kroatien eingriff, hat der Westen dies zunächst auch als innerjugoslawische Angelegenheit bezeichnet und versucht, sich rauszuhalten.
Im Jugoslawien-Konflikt ist mit der Berliner KSZE-Konferenz vom Juni 1991 die historische Gelegenheit für eine friedliche Lösung verpaßt worden. Damals hat man die Belgrader Zentralisten praktisch zur militärischen Gewalt ermuntert, als man die Unabhängigkeitsforderungen der Slowenen und Kroaten als „innere Angelegenheit“ klassifiziert hat. Es mußten erst Tausende sterben, bis die Republiken völkerrechtlich anerkannt wurden. Das war dann die Voraussetzung für die Zuständigkeit der UNO und die Entsendung der Blauhelme.
Wer aus dem Jugoslawien-Konflikt lernen will, muß wissen, daß „Bürgerkriege“ zwischen oder gegen Völker zu internationalen Krisen werden, wenn der Einsatz staatlicher Streitkräfte nicht rechtzeitig kontrolliert und gebremst wird. Dafür bieten die Budapester Beschlüsse der OSZE vom Dezember 1994 eine Chance, ohne daß etwa die Unabhängigkeit Tschetscheniens „von außen“ thematisiert wird. Im „Verhaltenskodex zu politisch-militärischen Aspekten der Sicherheit“ haben sich die OSZE-Staaten „politisch bindend“ verpflichtet, beim Einsatz von Streitkräften ihre Verfassung und das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu wahren. Und – ich zitiere –: „Die Streitkräfte werden es sorgsam vermeiden, Zivilpersonen zu beeinträchtigen oder deren Hab und Gut zu beschädigen.“ Dagegen hat die russische Regierung in eklatanter Weise verstoßen. Wenn das folgenlos bleibt, bleibt die OSZE ein Papiertiger, kommen die Bären aus dem Kalten Krieg zurück. Ich befürchte einen politischen Klimasturz.
Erklärt sich die westliche Zurückhaltung nicht auch damit, daß man keine Alternative zu Jelzin sieht?
Es ist in der Außenpolitik immer gefährlich, auf Personen zu setzen, die in einem schwer durchschaubaren Umgestaltungsprozeß Orientierung zu geben scheinen. Wir müssen den Prozeß von Demokratie, Rechtstaatlichkeit und wirtschaftlicher Umgestaltung in Rußland unterstützen. Die Alternative wäre eine postkommunistische Militärdiktatur. Hier leistet man Vorschub, wenn man zu dem brutalen Einsatz der Armee, zur Verletzung von Menschen- und Minderheitenrechten, zu Versuchen der Pressezensur schweigt. Die Politik des brutalen Exempels wird sich für die innere und äußere Lage Rußlands nur negativ auswirken. Das wird schon im Januar bei der von Rußland gewünschten Aufnahme in den Europarat die Atmosphäre vereisen. Die Diskussion über die Osterweiterung der Nato wird dagegen angeheizt werden.
Was kann die OSZE nun konkret unternehmen?
Jetzt sind Initiativen in folgenden Bereichen erforderlich:
1. Druck auf die russische Regierung zur Einstellung der militärischen Kampfhandlungen in Tschetschenien – bilateral, durch die Europäische Union und über die Aktivierung der OSZE-Mechanismen. Die OSZE muß Rußland formell vor die Frage stellen, ob es der Entsendung einer Beobachterdelegation nach Tschetschenien zustimmt. Das ist keine Einmischung in die inneren Angelegenheiten.
2. Vermittlerdienste der OSZE für eine dauerhafte friedliche Lösung des Tschetschenien-Konfliktes innerhalb der russischen Föderation. Die OSZE hat dafür Zuständigkeiten und Einrichtungen, zum Beispiel den Hohen Kommissar für nationale Minderheiten und das Büro für demokratische Institutionen und Menschenrechte.
Die SPD hat alle diese Forderungen in den vergangenen Wochen gegenüber der Bundesregierung erhoben. Langsam bewegt sich der Außenminister, während der Bundeskanzler versucht, seine Männerfreundschaft mit Jelzin auszusitzen. Wir werden in der ersten Sitzung des Auswärtigen Ausschusses im Januar einen Bericht der Bundesregierung verlangen und auf weitere Initiativen drängen. Das ist unsere Pflicht. Interview: Sabine Herre
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