: Kleinbürgermief als absurdes Theater
■ Neu im Kino: „Noorderlingen“/ Und immer schaut der Nachbar zu
Die Hölle, das sind die Nachbarn – besonders, wenn sie die Vorhänge nicht zuziehen. In dem holländischen Film „Noorderlingen“ gibt es immer neugierige Augenpaare in den Fenstern, denen nichts entgeht. Egal ob der Schlachter in seinem Laden die Verkäuferin sexuell belästigt, der Briefträger verhaftet wird, weil er heimlich die tägliche Post aller Bewohner las, oder der Förster mit seinem Jagdgewehr Amok läuft. Alle haben es gesehen, und erst nach der Vorstellung schließen sich die Gardinen. Der puritanische Mief der frühen 60er Jahre wird hier in einer pechschwarzen Komödie ad absurdum geführt. Alles ist in dieser Siedlung streng geordnet, auch wenn sie zu einem isolierten Wohnbauprojekt gehört, daß nie fertiggestellt wurde, und deshalb die ungepflasterte Straße direkt in ein ödes Niemandsland führt. Sonntags geht man in die Kirche, der Vater bestimmt, wann Radio gehört werden darf und selbst im kleinen Wäldchen stehen die Bäume ordentlich in Reihen, die wie mit dem Lineal gezogen sind.
In diese spießige Gemeinde packt Regisseur Alex van Warmerdam nun einige sehr merkwürdige Charaktere, die von ihren Neurosen in groteske Abenteuer getrieben werden. Eine Frau wird zur Heiligen, weil sie nur so vor ihrem ewig geilen Mann sicher ist, ein rebellischer Junge befreit einen Afrikaner, den Missionare in einem Käfig ausstellen, und im Wald haust ein mysteriöses, fehenhaftes Mädchen.
Van Warmerdam hat einen ganz eigenen, sehr überraschenden Humor – bei ihm weiß man nie, aus welcher Richtung die Pointen kommen. Und er erzählt sehr filmisch: die Bilder sagen fast alles und es gibt nur sehr wenig Dialoge. Deswegen sollte es auch niemanden abschrecken, daß der Film in der holländischen Fassung mit englischen Untertiteln gezeigt wird.
Van Warmerdam kann Langeweile zeigen, ohne dabei selbst langweilig zu sein, wie sonst nur Aki Kaurismäki. In seinem puritanisch, niederländischen Mikrokosmos sind alle Figuren so böse und extrem gezeichnet, daß man sie so fasziniert wie Wesen von einem andren Stern betrachtet. In den besten Szenen des Film hat van Warmerdam die Komik so präzis und elegant choreographiert, daß der Vergleich mit Jaques Tati nicht zu hoch gegriffen ist. 1992 wurde „Noorderlingen“ mit dem „Felix“ als bester junger europäischer Film des Jahres ausgezeichnet. Wie wichtig dieser „europäische Oscar“ ist ,sieht man daran, daß man ihn erst jetzt nach mehr als zwei Jahren in Deutschland im Kino sehen kann. An dem Film kann es nicht liegen – der ist der witzigste Angriff auf Familie, Ordnung und Anstand seit „Toto, le Hero“.
Wilfried Hippen Kino 46, Do. bis Sa, 20.30 und So. bis Di. 18.30 Uhr
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