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Moskaus Mütter will keiner hören

In Tschetschenien ist Krieg, doch der Kreml ist noch im Neujahrsurlaub / Soldatenmütter demonstrieren gegen das Verheizen ihrer Söhne und wollen sie aus Grosny heimholen  ■ Aus Moskau Barbara Kerneck

Die moralische Niederlage der russischen Militärs in Grosny wird von Tag zu Tag offensichtlicher. Am Dienstag und Mittwoch lenkten in Moskau frisch aus Tschetschenien zurückgekehrte Deputierte und Beobachter die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf eine der Ursachen für den mangelnden Kampfgeist: die menschenunwürdige Behandlung der russischen Soldaten seitens der Armeespitze. Ein Großteil der russischen Kämpfer in Grosny – darin stimmen die jüngst Zurückgekehrten überein – ist nicht älter als 18 oder 19 Jahre und völlig unvorbereitet. Am Dienstag demonstrierten daher etwa 40 Vertreterinnen des „Komitees der Soldatenmütter“ und rund 200 AnhängerInnen der „Gesellschaft Memorial“ vor dem Ex-KGB-Gebäude auf dem Ljubjanka-Platz. Eine Veranstaltung auf dem Roten Platz war von der Miliz zuvor verhindert worden. Nach der Kundgebung wurde Valentina Dmitrijewna Melnikowa als „Rädelsführerin“ wegen „Durchführung eines nicht sanktionierten Meetings“ für kurze Zeit festgehalten.

„Im Land ist Krieg – und die ganze Regierung hat Ferien! Im Präsidentenrat arbeiten die Telefone und Faxe nicht. Der Föderationsrat hat Ferien, ebenso die militärische Spitze, und die ganze Duma ist verrammelt“, beschwert sich Valentina Dmitrijewna. Vor dem Neujahrsfeiertag hatte ihre Organisation sich an den Generalstabschef mit der Bitte gewandt, 150 Eltern- Päckchen für Soldaten vom Militärflughafen Tschkalowka aus nach Mosdok zu schaffen. General Nikolaj Petrowitsch Kolesnikow wollte zwar die Päckchen durchlassen, aber für zwei begleitende „Mütter“ war nach seiner Einschätzung kein Platz in der Maschine. „Die Armeespitze kann dort keine fremden Augen gebrauchen“, erklärt Frau Melnikowa.

Eine annähernde Vorstellung von den russischen Verlusten in Grosny hat niemand. Die unlängst zurückgekehrten Deputierten sprechen von mehreren Hundert. „Das sind weitgehend unsere Toten“, erklärt Valentina Dmitrijewna: „Die Tschetschenen beerdigen natürlich erst mal die eigenen Leute. In den traditionellen Kriegen gab es wenigstens Bergungs- Trupps und Sanitäts-Trupps. Wir haben dort nichts dergleichen. Unsere Soldaten tragen nicht einmal Erkennungsmarken.“

Und auch die „heißen Drähte“, die einzelne Heeresteile für Eltern eingerichtet haben, sind meist eher kalt. „Die einzige Auskunft, die man dort erhält, lautet: Ihr Sohn lebt“, meint eine der Mütter. „Doch dann weiß man noch immer nicht, ob auf dem Papier oder in der Realität?“ Zu den Müttern kam letzte Woche eine Frau aus dem Dorf Domodjedowo bei Moskau. Sie ist zwei Wochen lang in Daghestan und Tschetschenien zu Fuß umhergewandert, um ihren Sohn zu suchen. Die Aufenthaltsorte der Verwundeten und Gefangenen, die sie an verschiedenen Orten getroffen hat, stimmten alle nicht mit den offiziellen Listen überein.

Sie berichtete: „Sogar die Kommandeure selbst wissen von nichts.“ Doch die Frauen wollen ihre Söhne nicht den Generälen überlassen. Auch bei der Demonstration wurde darüber nachgedacht, ob frau nicht nach Tschetschenien aufbrechen sollte: „Wir holen unsere Söhne zurück.“

Die Erzählungen über Geiseln, die Tschetschenen unter den russischen Soldaten genommen haben, sind Melnikowas Ansicht nach Märchen. Sie bestätigt, was auch 19 russische Gefangene am 30. Dezember unabhängigen Beobachtern berichteten: die Tschetschenen behandeln die jungen Russen als ihresgleichen. Erschüttert berichtete der Duma-Deputierte Alexander Osowzow am Dienstag auf einer Pressekonferez, russische Gefangene in Grosny, die insgesamt vier Tage lang im Feld standen, hätten ihm anvertraut: „Das erste Mal in der ganzen Zeit, daß wir etwas Anständiges zu essen bekamen, war nach unserer Gefangennahme.“

„Sie ernähren sich wie die Jäger und Sammler von dem, was sie irgendwo ergattern können. Dazu haben unsere Leute jetzt dort in dieser Kälte weiß der Teufel was für Zeug am Leibe“, bestätigt Valentina Dmitrijewna: „Die Militärhospitäler um Moskau sind voller Rückkehrer mit Hepatitis und schwerer Lungenentzündung.“ Und weiter: „Ich war immer gegen emotionsgeladene Aktionen. Bei der Gründung unseres Komitees vor sechs Jahren hätte ich mir nicht träumen lassen, daß wir einst wieder mit Plakaten gegen einen Krieg protestieren. Aber jetzt ist das Realität und Traum zugleich, nämlich ein Albtraum.“

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