: Nichts hören, nichts sehen, nichts sagen
■ Was Kinkel verschweigt: OSZE könnte gegen Moskaus Veto Beobachter nach Grosny schicken
Genf/Berlin (taz) – Bundeskanzler Kohl steht uneingeschränkt hinter seinem Außenminister. Obwohl die Äußerungen Klaus Kinkels zum Krieg in Tschetschenien inzwischen von mehreren CDU/ CSU-Politikern kritisiert wurden, seien sie, so Regierungssprecher Dieter Vogel gestern, „unverändert gültig“ und stellten „die Meinung der gesamten Bundesregierung dar“. In mehreren Interviews hatte Kinkel den Krieg als innerrussische Angelegenheit bezeichnet und ein Eingreifen der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) als problematisch abgetan.
Gegenüber der taz beurteilte der CDU- Bundestagsabgeordnete Friedbert Pflüger Kinkels Äußerungen als „unhaltbar“ und als „Widerspruch zur erklärten Politik der Bundesregierung“. Pflüger zeigte jedoch zugleich „Verständnis für die Zurückhaltung Kohls“. Am Dienstag hatte bereits der CDU-Abgeordnete Willy Wimmer der von Kinkel und Kohl vertretenen Auffassung widersprochen, der Tschetschenien-Konflikt sei eine „innere Angelegenheit“ Rußlands. Wimmer, Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung der OSZE, forderte eine Einschaltung dieser Organisation in den Konflikt. Die seit 1990 genau geregelten Verfahren der OSZE für ein Eingreifen in einen Konflikt sind – entgegen anderslautenden Darstellungen – weder von der Bundesregierung noch der französischen EU-Präsidentschaft oder von irgendeinem anderen der 53 OSZE- Staaten in Gang gesetzt worden. Das bestätigten auf Anfrage der taz übereinstimmend das OSZE-Generalsekretariat in Wien, das Bonner Außenministerium und ein Sprecher der französischen Regierung. Nicht einmal die nach den OSZE-Regeln unterste Stufe der „Einmischung“ – die Bitte an Moskau um Informationen – ist erfolgt. Kinkel hat lediglich als noch amtierender EU-Ratspräsident am 30. Dezember dem russischen Außenminister Kosyrew in einem Telefonat „empfohlen“, eine OSZE-Beobachterdelegation einzuladen. Laut einer gestern von der russischen Nachrichtenagentur Interfax verbreiteten Meldung will die Regierung in Moskau „demnächst“ auf diese Empfehlung antworten. Einen formellen Vorschlag für die Einladung einer Beobachterdelegation, der nach den OSZE-Regeln über das Warschauer OSZE-Büro für „Demokratische Institutionen und Menschenrechte“ erfolgen muß, unterließ Bonn.
Sollte die Bundesregierung einen formellen Vorschlag für eine Beobachterdelegation einbringen und Moskau diesen ablehnen, könnte Bonn mit der Unterstützung von mindestens fünf weiteren OSZE- Mitgliedern die Entsendung einer Delegation beschließen. Dagegen hätte Moskau keine Vetomöglichkeit mehr. Bei „besonders schweren Verstößen“ gegen OSZE- Prinzipien können zehn OSZE-Staaten auch unter Umgehung aller Vorstufen die Entsendung einer Beobachterdelegation beschließen. Auf der für nächste Woche angesetzten Sitzung des „Rats der Hohen Beamten“ der 53 Außenministerien könnte auch gegen die Stimme Moskaus eine Verurteilung Rußlands erfolgen.
Ob die EU schließlich eine Initiative zur Einleitung eines OSZE-Verfahrens ergreifen wird, ist noch unklar. Frankreichs Außenminister Alain Juppé erklärte gestern zwar, die EU müsse Rußland „jetzt zur Rede stellen“. Einen konkreten Vorschlag machte Frankreich bislang jedoch – zumindest öffentlich – nicht.
Der SPD-Bundestagsabgeordnete Norbert Gansel erklärte gegenüber der taz, wenn die EU OSZE-Verfahren einleite, müsse die Bundesregierung dies tun. Der russische Schriftsteller Lew Kopelew appellierte an Bundeskanzler Kohl, seine Freundschaft mit dem russischen Staatspräsidenten Boris Jelzin zur Schlichtung des Konflikts zu nutzen. „Der Bundeskanzler muß Jelzin freundlich, aber nachdrücklich klarmachen: Du führst dein Land ins Verderben“, sagte Kopelew.
Zu einer Protestkundgebung gegen das Vorgehen der russischen Armee in Tschetschenien haben mehrere Bundestagsabgeordnete von Bündnis 90/ Die Grünen, Vorstandsmitglieder der Heinrich-Böll-Stiftung sowie die Schriftsteller Lew Kopelew und Erich Loest aufgerufen. Die Kundgebung soll heute um 13 Uhr vor der russischen Botschaft in Bonn mit einer Rede Kopelews beginnen.
In Grosny haben die tschetschenischen Soldaten auch gestern die Kontrolle über das Stadtzentrum behalten. Zu neuen Kämpfen kam es dort wegen dichten Nebels nur vereinzelt. Heftige Gefechte gab es jedoch in Vororten der Hauptstadt. Bei der Zerstörung einer strategisch wichtigen Brücke starben sieben Menschen. Mindestens 20 Tote gabe es bei einem Bombenangriff der russischen Luftwaffe auf das 30 Kilometer südöstlich Grosnys liegende Dorf Schali. Moskau dementierte diese Bombardierung „ziviler Ziele“ jedoch ebenso wie den Angriff russischer Flugzeuge auf ein Dorf der Tschetschenien benachbarten Republik Inguschien.
Der Vorsitzende der Konföderation der Kaukasusvölker, Juri Schanibow, hat mit militärischen Schritten seiner Organisation gegen Rußland gedroht. Falls Moskau den Krieg fortsetze, werde die Konföderation bei ihrem am Wochenende stattfindenden Kongreß mit „großer Sicherheit“ eine solche Entscheidung treffen. Doch auch die russische Regierung mobilisiert weitere Kräfte. Nach Moskauer Angaben sollen „Eliteeinheiten“ gegen die „kampfstärksten und gefährlichsten Verbände“ der Tschetschenen eingesetzt werden. Nach den Worten von Vizepremier Nikolai Jegowow soll es so gelingen, Grosny heute einzunehmen. Gestern abend kündigte Jelzin für 24 Uhr eine Einstellung der Luftangriffe an. Andreas Zumach/Sabine Herre
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen