: Unorte: Schweinesysteme Von Claudia Kohlhase
Wieso soll man eigentlich Schwein haben, fragte ich mich heute morgen, als ich ein Schwein sah, könnte nicht das Schwein mich haben? Das Schwein lief am Rande eines Nervenzusammenbruchs entlang, und ich stand davor und sinnierte pflichtschuldig über Glück und Sein. Denken stinkt, dachte ich auf einmal, aber das war das Schwein, das in wenigen Metern Entfernung an mir vorbeizog. Können Schweine an einem vorbeiziehen, fragte ich mich, aber sie können, denn es konnte ja.
Ich sagte leise „los komm“ zu dem Schwein, damit ich im neuen Jahr Schwein habe bzw. das Schwein mich hat, aber das Schwein zog manisch seine Kreise. Okay, dachte ich und nahm jeden Kreis persönlich. Und es waren auf einmal erstaunlich glückliche Kreise, die dieses Schwein zog. Außer Kreisen konnte das Schwein auch nichts ziehen, tupfte aber wenigstens mit sensiblen Pfoten auf den Schnee. Es war ein Hängebauchschwein und muß ein Hängebauchschwein gewesen sein, wollte man den beiden Damen neben mir glauben: es ist ein Hängebauchschwein, sagte die eine, woraufhin die andere sagte, also ich weiß nicht, woraufhin die erste sagte, dochdoch, und die zweite, meinst du wirklich.
Hinten stand ein Wisent und muß ein Wisent gewesen sein, denn die beiden Damen fanden auch, es sei wahrscheinlich ein Wisent, und glotzte. Vermutlich glotze ich ähnlich, dachte ich, bloß mit hübscheren Haaren, aber wer wird auch zu Boden schauen, wenn ein Schwein vorbeikommt und Seitenblicke auf dich wirft, als wärst du ein Trüffel. Trotzdem ist es schon seltsam, daß man ein derartiges Schwein sein kann und nicht mal als eingedickter Chowchow durchgeht mit solchen Stummelbeinen und hinten einem Schwanz, der gar kein Schwanz sein kann. Was tust du eigentlich hier, fragte ich mich und hoffte vielleicht auf Antwort vom Schwein. Aber das Schwein war ungerührt unterwegs, Pfote für Pfote, und trat auf den Schnee wie andere Leute auf glühende Kohlen.
Zur Abwechslung starrte ich auf mehrere Ziegen am rechten Rand, aber von da kam keine echte Bedeutung auf. Auch nebenan der klapprige Eisteich sah bloß aus wie Brueghel mit Vögeln, also nichts Erhabenes wie mein Schwein, das einem eventuell zum Glück gereicht, wenn man nur lange genug bleibt. Woran erkennt man eigentlich bei einem Schwein das Glück, dachte ich plötzlich mißmutig, speziell bei einem Hängebauchschwein, vielleicht solltest du dir lieber eine dumme Ziege suchen oder zur Not auch ein Schaf, wenn nicht überall Ziegen und Schafe gewesen wären.
Schließlich sackten mir die Füße ein, Schneewolken zogen hinterm Parzellengebiet herauf, und mir wurde langsam klar, daß hier etwas mehr passieren mußte als bloß Schwein. Denn ein Schwein, das manisch an dir vorbeiläuft, das kann ja nicht alles gewesen sein. Hier mußte ein System her, im Grunde ein Schweinesystem, um mich und meine kalten Zehen zu rehabilitieren. Aber jetzt: woher ein Schweinesystem nehmen und nicht stehlen? Dazu noch irgendwie in Verbindung mit Glück? Entsetzlich. In dem Moment, als ich die Sau gerade von meiner Glücksvorstellung entbinden wollte, kamen aus der Ecke vier kategorische Ferkel geschossen. Also doch.
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