Wand und Boden: Wie still ist es in Red Hook wirklich?
■ Kunst in Berlin jetzt: Wolf Kahlen, Sverre Wyler und Henri Michaux
Die Geschichte der Ruinenkunst ist alt. Eine absolut zeitgenössische Einrichtung, dezidiert „unserer Zeit gewidmet“ ist dagegen die Ruine der Künste in Berlin. Den Grenzfall will aber auch sie repräsentieren, wie die ältere ruinöse Kunst. Das Ende einer Villa in Dahlem war der Anfang des privaten mäzenatischen Kunstprojekts von Wolf Kahlen. Der äußere Verfall verbirgt im Innern ein tadellos funktionierendes Gehäuse, in dem die Gäste, wie beispielsweise Jochen Gerz, Gerhard Rühm, der Hochenergiephysiker Burkhard Heim oder Bazon Brock, leben und arbeiten, um ein Werk in situ zu entwickeln.
Wolf Kahlen weicht mit seiner derzeitigen Ausstellung etwas von dieser Vorgabe ab. Zur Feier des zehnjährigen Jubiläums der Ruine hat er zwar einen gläsernen Grundstein in die Wand eingelassen, der die in Staub geschriebene Zeit enthält, doch ansonsten thematisiert die Ausstellung die wiedergefundene Zeit des Künstlers selbst. 1971 ließ Kahlen die Bilder des Caspar-David-Friedrich- Saals in der Hamburger Kunsthalle abhängen, um ihre Staubabdrücke an der Wand zu fotografieren. Zu einem Raum aus Fotoleinwänden installiert, waren sie der Gegenentwurf zu den Originalen an den Wänden. Jetzt sind die verborgenen Staubrahmen auf simplen Papierabzügen wieder zu sehen. Und zwanzig Jahre später gemachte Fotos aus dem entrümpelten Haus eines Sammlerpaares zeigen das gleiche Muster. Das wiedergefundene Motiv: Im puren Zufall wieder gefunden, was zuvor noch der konzeptionellen Anstrengung bedurfte. Fällt einem die Kunst im Laufe der Jahre einfach zu? „Gerettete Bilder“ einer Kleinbildrolle, die Kahlen bei einem Schiffbruch bei den Galapagosinseln bei sich trug, liegen vergrößert als Riesenrolle in der Mitte des Galerieraums. Das eingedrungene Salzwasser bewirkte fremdartige Muster und übermalende Schlieren, die den Formen glichen, die Kahlen vor diesem Zeitpunkt in seinen Fotoperformances über komplizierte Handlungsabläufe konstruierte.
Bis 19.2., Fr-So 14-18 Uhr, Hittorfstraße 5, Dahlem
„Red Hook ist still. Die Häuser stehen in Sichtweite zueinander und außerhalb des Hörradius voneinander entfernt. Jemand öffnet das Fenster und ruft. Keiner hört ihn. Er winkt. Man kann es sehen.“ Red Hook, ein kleines Nest im Staat New York, irgendwo am Hudson gelegen, scheint ein Bild zu sein. Ein Bild, das der norwegische Künstler Sverre Wyller in seine „Red Hook Bilder“ überführt. Der fremde Einwohner reduziert das Schweigen des Dorfes noch einmal um seine räumliche Dimension. Doch völlig flächig wirken Wyllers zwei groß- und acht kleinformatige Papp- und Papiercollagen, die in der Galerie von der Tann zu sehen sind, doch nicht. Die Art, wie er die Kanten der Papprechtecke und -quadrate aneinanderstoßen läßt und dazwischen und darüber Farbe legt, erzeugt eine latente Mehransichtigkeit.
Das Tafelbild „Large Red Hook Square“ kann so gesehen auch eine Pappkiste sein. Widersprüchlich zu den suprematistischen Montage-Elementen von Vertikalen und Horizontalen, rechtwinkligen, kubischen Formen stehen Wyllers Material und seine Farben. Der braune Naturton von Umzugskisten und amerikanischen Einkaufstüten mit Werbeaufdrucken von „Rhinebeck Chevrolet“ oder „Red Hook Mobil Service Center“ richtet sich deutlich gegen die Erwartungen, die eine Anordnung evoziert, die auch an Mondrian denken läßt. Ein eher scheußliches Petrolblau und ein blaustichiges Rot markieren eine deutliche Distanz zur De- Stijlschen Primärfarbenbalance. Schräg oder gar schrill möchte man diese Farben bezeichnen. Wie still ist es in Red Hook wirklich?
Bis 28.2., Di-Fr 15-18 Uhr, Liebensteinstraße 4, Dahlem
Mitten im weißen Blatt ein graurosa Farbstreifen auf dem abstrahierte, figürlich zu deutende Zeichen wie Notenschlüssel dahin tanzen: Henri Michaux, wie er 1960 den – durch einen Landschaftshorizont markierten – Bildhintergrund früherer Arbeiten einschrumpfen ließ. 1980 findet sich dieser Landschaftshintergrund allerdings auf kleineren Ölbildern wieder. Zwischen 1942 und 1981 entstandene Aquarelle, Tuschen und Gouachen des französischen Künstlers und Schriftstellers belgischer Herkunft, der vor zehn Jahren starb, sind derzeit in der Galerie Georg Nothelfer zu sehen. (Die über das vergangene Jahr resümiert: „Erfreulich ist, daß mehr Kunstinteressierte denn je die Ausstellungen der Galerie besuchen und rund sechzig Prozent davon ausgesprochen kulturhungrige junge Menschen sind.“ Alora!) Experimente mit halluzinogenen Drogen verbinden sich mit dem Namen von Michaux; neben den berühmten Bildern, auf denen dicke schwarze Tuschflecken, sogenannte taches, den weißen Papieruntergrund überziehen und ein flatterndes Netzwerk bilden, das tendenziell auch an C. M. Eschers schwarzweiße Vogelschwärme erinnert. 1943 malte Michaux noch bunter, zwei hart umrandeten Figurenchiffren könnten als Vorläufer gegenwärtiger Sprayerfiguren gelten. In den fünfziger Jahren tanzten sie — zu schlanken schwarzen Tuschklecksen mutiert — im Gruppenballett der „Mouvements“.
Als „Schrift von keinerlei Sprache“, wie Michaux einmal notierte, ließe sich seine Übersetzung der surrealistischen écriture automatique in die tachistische Abstraktion auch lesen, hätte sie denn einen Code, eine Grammatik. Als bedrohliche Ungezieferschwärme, die mit dem Delirium hereinbrechen, wurde seine Grafik geschmäht, als Sturz der Lemminge interpretiert; aber die Aquarelle und Gouachen der siebziger und achtziger Jahre zeigen heiteres Rosa, und die anthropomorphe Farbflecken ergeben zwar Gespenster, aber freundliche; solche, die in weißen Bettlaken stecken.
Bis 4.2., Di-Fr 14-18.30, Sa 10-14 Uhr, Uhlandstraße 184, Charlottenburg Brigitte Werneburg
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