: Scheinanmeldung mit Hindernissen
■ Pfarrer meldete Obdachlosen in seiner Gemeinde an: „moralisch astrein“
Allerhand Schauriges aus dem Leben von Wohnungslosen erfuhren gestern im Amtsgericht Tiergarten der Richter und der Amtsanwalt: viele von ihnen übernachten auf Toiletten, nicht alle überleben das. Mit einem Schnellkurs in Sachen Obdachlosigkeit versuchte Pfarrer Joachim Ritzkowsky, der wegen Verstoßes gegen das Meldegesetz angeklagt ist, dem Gericht eine Vorstellung davon zu geben, was es heißt, ohne Wohnung zu sein.
Die Anmeldung des Obdachlosen Manfred Lehmann in seiner Kirchengemeinde in Kreuzberg sei eine Straftat, die mit bis zu einem Jahr Gefängnis geahndet werden kann, sagte der Richter zu Verhandlungsbeginn. 1993 hatte der Pfarrer den kranken Lehmann in der evangelischen Heilig-Kreuz- Gemeinde erstmals angemeldet (s. gestrige taz), damit dieser einen Krankenschein und Sozialhilfe erhält. Für diese „Mitwirkung an einer Scheinanmeldung“ erhielt er einen Bußgeldbescheid, gegen den er Widerspruch einlegte.
Doch die Mühlen der Justiz kamen gar nicht erst zum Mahlen. Das Landeseinwohneramt hatte Lehmann wieder abgemeldet, und das Gericht wußte nicht, wohin mit der Zeugenladung. Der Pfarrer meldete Lehmann ein zweites Mal an, stellte Selbstanzeige und erhielt eine zweite Aufforderung zur Geldbuße. „Jemand, der die Gerichtsbarkeit unterstützt, darf doch nicht getadelt werden“, sagte er gestern. Die zweite Anmeldung diente lediglich der Zeugenladung. Der Amtsanwalt kam nicht umhin, ihm zu attestieren, daß er „rein moralisch astrein ist“. Der Pfarrer will, genau wie die Sozialstadträtin von Kreuzberg, Ingeborg Junge- Reyer (SPD), die gestern als Zeugin aussagte, daß sich Obdachlose am Ort ihres häufigsten Aufenthaltes anmelden können. Junge- Reyer bestätigte, daß ihr Bezirksamt die Zuständigkeit für Lehmann übernommen hat, obwohl sie wußte, daß diese in Treptow liegt. Es sei für Lehmann, der gestern wahrscheinlich krankheitsbedingt nicht erschienen ist, unzumutbar, bis nach Treptow zu fahren. Der Richter, überrascht über so viel Kulanz, schlug die Anwendung des Paragraphen 153 vor. Rechtsanwalt Hans-Joachim Ehrig bat den Richter, weniger aus Unkenntnis denn aus Spaß an der Freude, seinen Mandanten über den Papiertiger aufzuklären. „Wir nennen in der Kirche auch das Lied und nicht nur die Versangabe“, legte Ritzkowsky nach. Das Gelächter der Zuschauer ging in schallendes Lachen über, als der Richter dem Angeklagten die Einstellung des Verfahrens gegen Zahlung einer Geldstrafe an eine gemeinnützige Organisation anbot. Dies lehnte Ritzkowsky ab. Er verfolge mit dem Prozeß nicht juristische, sondern politische Ziele. Der Prozeß wird nächsten Mittwoch fortgesetzt. Barbara Bollwahn
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