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Das produktive Chaos

■ „Sklaven“, eine Zeitschrift aus dem Prenzlauer Berg – anarchistisch, links und heimatlos oder mausgrau, kindisch und durchgedreht? Zwei Artikel zu einer Veranstaltung

Seit einem Dreivierteljahr versucht die im Prenzlauer Berg beheimatete (genauer: im „Torpedokäfer“ in der Dunckerstraße) Zeitschrift Sklaven politische und ästhetische Widerstandsformen zusammenzuführen. Das Spektrum der im BASIS-Druck-Verlag allmonatlich erscheinenden Zeitschrift ist denkbar breit. Neben literarischen Arbeiten u.a. von Bert Papenfuß, A.R. Penck, Annett Gröschner oder Kiev Stingl findet sich Klaus Wolframs großartige „Geschichte des guten Willens“ – eine breit angelegte journalistisch- literarische, auch mal theoretisierende Geschichte der DDR-Opposition in tausend Folgen. Neben einem ökonomischen Text von Güner Reiman, dem mittlerweile neunzigjährigen ehemaligen Wirtschaftsredakteur der Roten Fahne, steht ein Aufsatz des Ethnologen Hans Groffebert über Fake-Organisationen in der Entwicklungshilfe.

Der Name des kommunistischen Dissidenten, Anarchisten, Ökonomen und Dichters Franz Jung steht als „kleinster gemeinsamer Nenner“ über oder neben dem Unternehmen. Doch selbst in der Bewertung ihrer „Ikone“ unterscheiden sich inzwischen die Sklaven-Macher, die am Dienstag abend im völlig überfüllten „Café Clara“ in Mitte ihr Projekt vorstellten. Während der Endlosrechercheur Helmut Höge, der am liebsten nur noch „Fakten, Fakten, Fakten“ präsentieren möchte und für den „die Summe des Scheiterns“ keinen Sinn mehr ergeben muß, eher lapidar anmerkte: „Franz Jung war ein Schwein“ und in der undogmatischen Westlinken vor allem deswegen populär gewesen, weil halt jeder gern mal ein Schiff entführt oder eine Zündholzfabrik im Ural geleitet hätte, verteidigten seine Kollegen den Namen zuweilen fast emphatisch. Jung stehe für das Bild des heimatlosen Linken, es sei immer noch wichtig, ihn zu lesen (was kaum bestritten werden kann).

Jung stehe für das Spektrum links von der PDS, meinte Papenfuß, worauf aus der Tiefe des Raumes der Dichter Kiev Stingl ergänzte „und rechts von den Republikanern“, worauf der Sklaven- Bürgerrechtler Wolfgang Kempe befand, das sei „ein schlechtes Bonmot“. Doch Stingl ließ sich nicht stoppen und warf dialogunlustig einige „Haikus“ (Adolf Endler) in den Raum – „Es geht um den Kampf gegen alles, was sonst“ –, bevor er den Raum verließ. Eine produktiv-chaotische Ost-West-Diskussion folgte.

Wie schon vor ein paar Wochen, als J. Kuttner die letzte Sklaven- Veranstaltung im Tacheles moderierte und irgendwann ein Bierglas aus dem Zuschauerraum auf die Vortragenden geschleudert worden war, so war es auch diesmal sehr chaotisch. Dies Chaos allerdings, dem die einander widersprechenden Positionen und Temperamente in der Sklaven-Redaktion entsprechen, ist notwendig und auch produktiv. Überflüssige schöne Zeitschriften, Texte, Diskussionen, in denen man sich narzistisch nur spiegelt, gibt es mehr als genug. Kuttner, der nicht da war, überlegt, seine Akten, sobald er sie hat, ungekürzt im Sklaven abzudrucken. Detlef Kuhlbrodt

Zu kaufen gibt es den „Sklaven“ u.a. in Kneipen und Antiquariaten im Prenzlauer Berg. In Kreuzberg u.a. im Mehringhof, bei „Blumhagen“, im Antiquariat „Kalligramm“, in der Buchhandlung „Dante Connection“ usw.

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