■ Interview mit Sheldon Hackney, Beauftragter Clintons: „Was hält uns zusammen?“
Sheldon Hackney wurde 1993 von US-Präsident Bill Clinton zum Vorsitzenden der „National Endowment For The Humanities“ (NEH) ernannt, einer Bundesstiftung, die die Förderung der Human- und Sozialwissenschaften zur Aufgabe hat. Unmittelbar nach Amtsantritt rief der Historiker und ehemalige Präsident der University of Pennsylvania seine MitbürgerInnen zu einer „nationalen Diskussion“ über Pluralismus und Identität in den USA auf. Seitdem finanziert die NEH, die 1965 zusammen mit der „National Endowment For The Arts“ gegründet wurde, aus ihrem Haushaltstopf Diskussionsreihen an Universitäten, Schulen, in Gewerkschaften, Nachbarschaftsorganisationen, Museen, Bibliotheken, Kirchen, Radioprogrammen, „Electronic Townhall Meetings“ oder auf dem Internet. Leitmotiv der Debatten ist die Frage, inwieweit in der Einwanderungsgesellschaft USA das Motto „E pluribus unum“ überhaupt noch gültig ist. Die taz sprach mit Hackney in Washington.
taz: Wie muß man sich eine „nationale Konversation“ über Identität und Pluralismus vorstellen?
Sheldon Hackney: Was wir nicht wollen, sind Kraut-und-Rüben-Gespräche. Wir geben einen Diskussionsrahmen vor. Der besteht, ganz grob gesagt, in der Frage: Woraus besteht Anfang des 21. Jahrhunderts unsere Identität als Amerikaner? Was hält unsere Gesellschaft, die in bezug auf Hautfarbe und Ethnie enorm heterogen ist, eigentlich noch zusammen? Können wir gemeinsame Werte und Prinzipien ausmachen, die eine Grundlage für eine solche Identität bilden? Es gibt natürlich reichlich Metaphern, mit denen man diese Grundlage zu beschreiben versucht hat: Der melting pot ist eine solche Metapher, die das Bedürfnis nach Homogenisierung, nach Assimilierung ausdrückte zu einer Zeit, als es eine Einwanderungswelle aus Süd- und Osteuropa gab. Die Geschichte zeigt ganz klar: Es hat eine Menge Anpassung und Assimilierung gegeben. Doch es verschmilzt nicht. Seit den 70er Jahren gibt es vielmehr die Tendenz ethnischer Gruppen, zumindest Teile ihre Herkunft und Abstammung zu bewahren. Seitdem sind andere Metaphern in Mode gekommen: Mosaik, Flickenteppich, Salat, Gulasch. Die extreme Version ist eine „Nation von Nationen“, in der die verschiedenen Gruppen ihre Identitäten und Interessen voneinander abgrenzen und eine gemeinsame Loyalität gegenüber der Nation kaum zu finden ist.
Ist denn die gegenwärtige Situation, die manche als „Balkanisierung der USA“ beschreiben, qualitativ wirklich neu?
Anti-Immigrationsbewegungen gab es immer wieder. Gegen die Iren, dann gegen Süd- und Osteuropäer, heute gegen Immigranten aus Asien und Lateinamerika. Also immer gegen Gruppen, die ethnisch zu sehr vom Mainstream abwichen und deren Willen und Fähigkeit zur Anpassung von der Mehrheit bezweifelt wird. Nur stellt sich heute die Frage: Anpassung an was?
Womit beginnen die TeilnehmerInnen der von Ihnen initiierten Diskussionen? Wird zuerst über einen kleinsten gemeinsamen Nenner für eine „amerikanische Identität“ geredet oder über das, was die Gesellschaft fraktioniert?
Letzteres. Die Diskussion über eine gemeinsame Identität kommt, wenn überhaupt, erst am Ende. Grenzen und Gräben sind schnell benannt: Ethnie, Hautfarbe und Sprache. Die erste Erkenntnis für viele Teilnehmer besteht aber darin, daß die ethnischen Gruppen selbst enorm heterogen sind. Die US-Gesellschaft ist in diesen Diskussionsrunden plötzlich nicht mehr in Afroamerikaner, Angloamerikaner, hispanische Amerikaner oder asiatische Amerikaner unterteilt. Da streiten sich der Amerikaner vietnamesischer Herkunft und der Amerikaner kambodschanischer Herkunft darüber, ob ihre Kinder zweisprachig aufwachsen oder nur Englisch lernen sollen.
Ihnen macht ganz offensichtlich die Ausdifferenzierung der Identitäten in der US-Gesellschaft Sorge. Ist das wirklich, wie Arthur Schlesinger und viele andere angloamerikanische Akademiker und Politiker beklagen, der Beginn der „Desintegration Amerikas“ oder vielmehr ein ganz normales Stadium im Prozeß der Emanzipation – und damit auch Integration – von Minderheiten?
Ich denke, es ist ein zwangsläufiger Prozeß, der aber gleichzeitig Grund zu Besorgnis gibt. Und wenn die Bürger selbst das Gefühl haben, ihre Gesellschaft befinde sich in einem Auflösungsprozeß, dann muß man das ernst nehmen. Worum es mir letztlich geht, ist ein Klima, in dem Interaktion zwischen ethnischen Gruppen möglich ist, ohne daß Stereotypen, Dogmen oder Gruppendruck das beeinträchtigen oder gar verhindern können. Bislang gibt es zu wenig Bewußtsein in den USA, daß man an diesem Thema arbeiten muß. Daß es in diesem Land enorme Spannungen gibt, ist jedem klar, der den „Rodney King“- Aufruhr in Los Angeles oder andere Unruhen verfolgt hat, die im übrigen längst nicht mehr nur den Konflikt zwischen Schwarzen und Weißen widerspiegeln. Das sind multiethnische Konflikte.
In einer Diskussion um eine gemeinsame Identität geht es mir nun überhaupt nicht um eine ethnische Identität, sondern eher um ein gemeinsames Konzept, eine gemeinsame Idee von dem, was dieses Land ausmacht. So betrachtet haben wir keinen schlechten Ausgangspunkt, denn die meisten Immigranten haben ein solches Konzept im Kopf, wenn sie hierher kommen: Dies ist nach wie vor das Land, in dem sie sich aus eigener Kraft ein besseres Leben bauen können.
Identität entsteht in einer so heterogenen Gesellschaft wie den USA zu einem nicht unerheblichen Teil aus der nationalen Mythologie. Schwarze sind davon allein aufgrund des Umstandes ausgeschlossen, daß sie zwangsweise, als Sklaven, hierher gebracht worden sind. Muß in einem nationalen Dialog nicht das Verhältnis zwischen Schwarzen und Weißen und die Geschichte der Schwarzen eine besondere Rolle spielen?
Wir werden keine ehrliche Gesprächsbasis finden, solange wir nicht die völlig unterschiedlichen historischen Erfahrungen der ethnischen Gruppen anerkennen. Mit anderen Worten: Bevor Weiße sich nicht mit der Sünde der Sklaverei – und ihren Folgen – auseinandersetzen, ist keine angemessene Diskussion mit Afroamerikanern möglich. Man kann aber auch einen anderen Ansatz nehmen: Bevor wir nicht definiert haben, was uns in diesem Land zusammenhält, welche Loyalitäten uns binden, können wir unsere Differenzen nicht austragen.
Eine Ebene, auf der seit einigen Jahren recht heftig Differenzen behauptet oder bestritten werden, ist die Sprache. Genauer gesagt: Sprache unter der Überschrift: Political Correctness. Was bedeutet dieser Streit in Ihren Augen? Einen Streit um Worte, Definitionsgewalt, Symbole oder ein Substitut für grundlegendere Probleme wie ökonomische oder rassische Diskriminierung?
Ich verstehe darunter eine Orthodoxie, die es für jeden schwierig macht, sich nicht mit jemandem solidarisch zu erklären, der sich zum Opfer einer wie auch immer gearteten Form der Unterdrückung erklärt. Damit sollen nicht berechtigte Forderungen auf soziale Gerechtigkeit oder Kompensation für erlittene Ungerechtigkeit in Abrede gestellt werden. Problematisch ist das Dogma, daß keine Forderung oder Äußerung eines Vertreters einer solchen Gruppe in Abrede gestellt werden kann. Die Gegenreaktion ist nun seit etwa zwei Jahren im Gang. Jetzt besteht die Gefahr einer Anti-Political- Correctness-Orthodoxie.
Aber verbirgt sich hinter der PC-Bewegung gerade im Zusammenhang einer Debatte um Identität und Pluralismus nicht mehr als eine Orthodoxie? Schließlich geht es hier auch um Definitionsgewalt und um die Interpretation von Geschichte?
Natürlich steckt dahinter mehr. Wenn man erst einmal anerkennt, daß Stereotypen und Vorurteile sozial und kulturell konstruiert werden, dann muß ein wichtiges Instrument dieser Konstruktion die Sprache angehen. Das haben die sozialen Bewegungen der sechziger und siebziger Jahre, vor allem die Frauenbewegung, erkannt und erfolgreich umgesetzt. Aber wir sind hier in Amerika – und hier werden solche Entwicklungen meistens ins Extrem getrieben. Wir haben in diesem Land keine politischen oder staatlichen Institutionen, die irgendwann einen Riegel vorschieben oder einen Kompromiß durchsetzen. Statt dessen gibt es eine Gegenbewegung auf gesellschaftlicher Ebene. In diesem Fall eine, die das Ganze lächerlich macht. Interview: Andrea Böhm
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