: Todesstrafe „Gebot sozialistischer Gerechtigkeit“
■ DDR-Richterin steht seit heute wegen mehrerer Todesurteile vor Gericht
Verdacht des sechsfachen Totschlags, der Rechtsbeugung und Freiheitsberaubung – solch schweren Vorwürfen war bislang noch kein DDR-Richter ausgesetzt. Auf der Anklagebank sitzt ab heute eine jetzt 74jährige ehemalige Richterin des Obersten Gerichts der DDR. Sie soll Mitte der 50er Jahre an mehreren Todesurteilen mitgewirkt haben.
Grundlage der Verurteilung war jeweils der Artikel 6 Absatz 2 der Verfassung der DDR von 1949. Die Verurteilten kamen auf das Schafott, weil sie angeblich „Spionage, Kriegs- und Boykotthetze oder friedensgefährdende Propaganda für den Militarismus“ begangen hatten. Nur: Der Artikel 6 ordnete die Todesstrafe gar nicht an. In ihm war gar kein Strafmaß genannt. Die DDR-Richter wendeten den Tatbestand also praktisch willkürlich an.
In der Verhandlung gegen die DDR-Juristin wird es unter anderem um das Todesurteil gegen Elli Barczatis vom September 1955 gehen. Sie war Sekretärin beim früheren DDR-Ministerpräsidenten Otto Grotewohl. Über ihren ebenfalls zum Tode verurteilten Freund hatte sie, so das Urteil des Obersten Gerichts, im Westen über Grotewohls Besucher berichtet. In den Urteilsgründen sollen die Angeklagten als „unverbesserliche Feinde des werktätigen Volkes“ bezeichnet worden sein, die „unschädlich“ gemacht werden müßten.
Ob der angeklagten Juristin allerdings ohne weiteres eine Schuld nachgewiesen werden kann, ist fraglich. Dies hängt vor allen Dingen davon ab, wie sie vor Gericht aussagt. Bereits im Sommer 1994 wurde der frühere Richter am obersten DDR-Gericht, Hans Reinwarth, teilweise freigesprochen, weil er im Hinblick auf ein Todesurteil erklärt hatte, er habe damals dagegen gestimmt. Reinwarth wurde letztlich wegen zweifachen Totschlags und versuchten Totschlags zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und neun Monaten verurteilt – der bislang härtesten Strafe gegen einen DDR-Juristen. Diese Verurteilung war aber nur möglich, so die Vorsitzende Richterin damals, weil Reinwarth die Zustimmung zu den entsprechenden Todesurteilen gestanden hatte.
Von 1949 bis 1969 wurden in der DDR 194 Todesurteile, meist durch Genickschuß, vollstreckt. Bis zu ihrer Abschaffung wurde die Todesstrafe von oberster Stelle gerechtfertigt. Justizminister Kurt Wünsche verteidigte sie im Jahre 1969: „Indem die Todesstrafe der Sicherung und dem zuverlässigen Schutz unseres souverän sozialistischen Staates, der Erhaltung des Friedens und dem Leben der Bürger dient, trägt sie einen humanistischen Charakter“ und sei ein „Gebot sozialistischer Gerechtigkeit“. Ulrich Scharlack
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