: Die russische Tragödie
■ Lebenserwartung ist dramatisch gesunken / Kindersterblichkeit verdoppelt
Über den dramatischen Rückgang der Lebenserwartung in Rußland berichtete der Moskauer Bevölkerungswissenschaftler Vladimir Shkolnikow in London. Im Jahre 1993 war die Lebenserwartung der russischen Männer gegenüber dem Vorjahr um volle drei Jahre gesunken – ein einmaliger Vorgang in der modernen Geschichte außerhalb von Kriegszeiten. Heute werden russische Männer im Schnitt nur 59 Jahre alt, die deutschen Männer dagegen 72,9 Jahre. Die russischen Frauen haben eine Lebensspanne von 72 Jahren und liegen damit rund 8 Jahre unter dem westeuropäischen Durchschnitt.
Nach Angaben des Bevölkerungswissenschaftlers war die Lebenserwartung in der früheren Sowjetunion schon in den siebziger Jahren gesunken. Dies belegten alte, bislang unveröffentlichte demographische Daten, die erst jetzt am Moskauer Zentrum für Demographie ausgewertet wurden. In der Breschnew-Ära sei man sich zwar der Verschlechterung der Situation bewußt gewesen, habe die Zahlen aber geheimgehalten, sagte der Wissenschaftler.
Gorbatschows Politik, vor allem seine Anti-Alkohol-Kampagne, habe Mitte der achtziger Jahre zu einer deutlich steigenden Lebenserwartung geführt, die seit dem Ende des Sozialismus aber wieder dramatisch zurückgeht. Shkolnikow nannte die Ursachen: Herz- Kreislauf-Krankheiten haben nochmals stark zugenommen und liegen weit über Westniveau. Die im internationalen Vergleich gute Position bei den Krebs-Zahlen ging verloren. Vor allem Brust-, Darm- und Lungenkrebs nehmen zu, Magenkrebs geht langsamer zurück als im Westen.
Carl Haub vom Washingtoner Büro für demographische Studien beklagt die mehr als verdoppelte Rate der Kindersterblichkeit. In der alten Sowjetunion starben 14 von 1.000 Neugeborenen, heute sind es 30. Bei den Geburten zeigt sich ein erheblicher Rückgang – Zeichen der Not und Hoffnungslosigkeit. 1990 wurden noch 13 Kinder je 1.000 Bewohner geboren, 1993 nur noch 9.
Der Niedergang des Landes dokumentiert sich auch in der Zunahme von Alkoholismus, Selbstmorden, Mord und Totschlag. Nach Angaben Shkolnikows sterben in Rußland 20mal mehr Menschen durch Mord und Totschlag als im europäischen Schnitt. Auch die Zahl tödlicher Arbeits- und Verkehrsunfälle – häufig unter Alkoholeinfluß – steige alarmierend.
Besonders schlimm ist die Situation im arktischen Rußland: In dieser Polarregion mit „totaler Umweltzerstörung“, so die Kennzeichnung des Nansen-Instituts Oslo, das diese Region untersucht – ist die durchschnittliche Lebenserwartung bereits auf 50 Jahre gesunken.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf hat wiederholt auf die deprimierenden Lebenschancen in Rußland hingewiesen und die „teuflische Spirale aus Krankheit, Hunger, wirtschaftlichem und politischem Chaos“ beschworen. Die medizinische Versorgung sei katastrophal. In keiner anderen großen Industriezivilisation, so der WHO-Bericht, seien so lange und so systematisch Luft, Wasser und Menschen vergiftet worden. Keine andere fortgeschrittene Gesellschaft sehe sich mit einer derart hoffnungslosen politischen und wirtschaftlichen Situation konfrontiert und verfüge über derart wenige Mittel, um sie zu ändern. Manfred Kriener
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen