: Terroranschläge aus der Spraydose
Nach Hütchenspielern und Zigarettenhändlern haben Heckelmann, die CDU und der Polizeipräsident einen neuen Feind entdeckt: 15.000 Sprayer, die „die Stadt mit Gewalt überziehen“ ■ Von Dirk Wildt
Polizeipräsident Hagen Saberschinsky bilanzierte im gestrigen Innenausschuß einen jährlichen Schaden von 200 Millionen Mark und sprach von „sehr strukturierter Kriminalität“. Der CDU-Abgeordnete und Postoberinspektor Dieter Hapel machte eine „brutale Gewaltszene“ aus, mit einem „starken Hang zur Bewaffnung“. Innensenator Dieter Heckelmann (CDU) kündigte an, daß die Razzia in 85 Wohnungen und Geschäften am vergangenen Freitag keine einmalige Sache bleiben und die Polizei diese Großaktionen „kontinuierlich fortsetzen“ werde. Es ging aber nicht – wie man nach diesen starken Worten annehmen sollte – um eine neue Mafia und die Reaktion der Polizei, sondern um jugendliche Sprayer.
Der Rechtsanwalt und bündnisgrüne Abgeordnete Wolfgang Wieland war gestern der einzige in dem Sitzungsraum des Preußischen Landtags, der sich an eine Terminologie erinnert fühlte, die die Polizei gewöhnlicherweise im Zusammenhang mit Terrorismus verwende. Die Lage werde „vollkommen dramatisiert“, die Sprayerszene zu Unrecht in die Nähe schwerer Kriminalität gerückt. Dafür mußte sich Wieland von dem in Rente geschickten Lehrer und CDU-Politiker Ulrich Krüger beschimpfen lassen. Angesichts der vom Polizeipräsidenten benannten „Größenordnung“ sei es „pervers“, von einer „Dummen-Jungen-Ideologie“ zu sprechen.
An Saberschinskys Zahlen waren aber nur zwei Dinge beeindruckend. Zum einen sollen selbsternannte Sprühdosen-Künstler im vergangenen Jahr an Waggons der Bahn-AG eine kaum vorstellbare Fläche von 15 Quadratkilometern bemalt und beschmiert haben – das entspricht der Größe des Bezirks Wedding. Zum anderen ist das illegale Bildermalen und „Taggen“ unter Jugendlichen offenbar ein Massensport geworden, an dem sich inzwischen 15.000 Jungen und Mädchen beteiligen.
Daß nicht alle Sprühdosen bei Karstadt brav an der Kasse bezahlt werden, kann kaum überraschen. Heckelmann sprach von Begleit-, Saberschinsky von Beschaffungskriminalität. Doch Vorwürfe wie der Hapels, die Szene überziehe „die Stadt mit Gewalt“, belegten sie nicht. Offenbar gibt es im Zusammenhang mit Graffiti bislang nur kriminelle Einzelfälle: eine schwere Körperverletzung und eine Körperverletzung mit Todesfolge. Silvester soll ein Jugendlicher von einem Sprayer mit einem Messer schwer verletzt worden sein. Ein paar Monate zuvor hat ein 15jähriger einen 50jährigen Ladendetektiv erstochen.
Von den 15.000 DelinquentInnen im Jugendalter hinterlassen 12.000 ohnehin nur „Tags“ – kleine Gebilde. Bis zu 3.000 Jugendliche würden gelegentlich größere „Peaces“ hinterlassen und 200 bis 300 Jugendliche übten die illegale Tätigkeit permanent aus, meinte der Polizeipräsident. Diese bildeten Gruppen, von denen manche jede Woche Farbe im Wert von 3.000 Mark verbrauchten.
Sami „Ben“ Mansour ist einer derjenigen, die die Polizei zu den Kriminellen zählt. Nach einem Bericht des Graffito-Insiders Tobias Schönpflug wurde Mansour bei der Razzia am Freitagmorgen um fünf Uhr durch die Staatsmacht geweckt, als sie den HipHop-Zubehörladen seiner Mutter, den „Wild-Side-Shop“ in Spandau, durchsuchten. Die Staatsanwaltschaft kassierte nicht nur Videos von Sprayaktionen und einer Geburtstagsfeier, sondern auch Mansours Wollmütze ein. Sogar eine Empfehlungsurkunde der Stadt Los Angeles für herausragendes soziales Engagement habe man mitnehmen wollen, berichtete Schönpflug. Die Polizei wirft Mansour vor, in 47 Fällen Graffiti unerlaubt an Hauswänden hinterlassen zu haben. Mansour hat für private Firmen und den Senat Workshops gegen Gewalt und Drogen veranstaltet und Kunstwettbewerbe gewonnen.
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