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Halbgenaues aus der Seele

Was man nicht durchleben kann, das läßt sich auch nicht erdenken: Sophie Freud, siebzigjährige Enkelin von Sigmund Freud, widerspricht dem Großvater der Psychoanalyse. Bei ihrem Berliner Auftritt gab sie sich lebenspraktisch  ■ Von Andrea Kern

Über ihren Großvater spricht Sophie Freud nur selten. Sie war gerade 13, als sie ihn in Wien 1938, ein Jahr vor seinem Tod, zum letzten Mal sah. Nach dem „Anschluß“ Österreichs an Nazi-Deutschland emigrierte sie mit ihrer Mutter über Paris nach New York, während Sigmund Freud sich mit seiner Tochter Anna und seinem ältesten Sohn Martin, Sophies Vater, ins Londoner Exil aufmachte. Heute lebt sie in Boston und unterrichtet als Psychologieprofessorin an der Simmons College School of Social Work.

Im Unterschied zu Anna Freud, die mit ihrem Buch „Das Ich und die Abwehrmechanismen“ (1936) ganz in die Fußstapfen ihres Vaters trat, betrachtet die Enkelin sein Werk mit einer ordentlichen Portion Skepsis. In ihrer vor drei Jahren erschienenen Autobiographie „Meine drei Mütter und andere Leidenschaften“ (dtv) beschreibt sie, wie für sie im Alter von knapp 40 Jahren – sie hatte bis dahin ihre drei Kinder großgezogen und als Sozialarbeiterin in der Kinderfürsorge gearbeitet – eine Welt zusammenbrach. Es war die Welt Freuds, bestehend aus Ödipuskomplex, Penisneid und vaginalem Orgasmus, in der auch sie bis dahin blind gelebt hatte, die damals, als sie zum Psychologiestudium an die Uni zurückkehrte, wie ein Kartenhäuschen zusammenfiel.

Daß ihre Autobiographie auch in Berlin vor einem staunenden akademischen Publikum so große Begeisterung ausgelöst hat, mag an der ungeschützten Art liegen, in der sie ihr ziemlich durchwachsenes Leben erzählt. Vom Vater früh verlassen, von der Mutter wenig geliebt, heiratet sie in New York bald einen steifen Preußen, mit dem sie außer einer 40 Jahre währenden Ehe nichts verbindet. „Du kannst es ja vortäuschen“, hatte die Mutter der Jungvermählten damals mit auf den Weg gegeben. Als sie sich später in ihre Tante Anna verliebt, antwortet die bloß lakonisch: „Wie unbequem für dich.“ Und zu einer Zeit, als sie schon längst zahlreiche Aufsätze zum Thema vaginaler Orgasmus und G-Spot publiziert hatte, weiß sie noch immer nicht, wie man einen Mann verführt.

Und dennoch spricht Sophie Freud über ihr Leben, ihre Arbeit und ihre Theorie, als wäre alles aus einem Guß. Wenn sie gegen die „Wonnen der Mutterschaft“ polemisiert, tut sie das nicht nur aus feministischer Überzeugung; dahinter steckt immer auch ein Stück eigener Biographie. Der Charme ihres Buches liegt unter anderem in dem Mythos von der „gelebten Theorie“, den Sophie Freud geschickt zu verbreiten versteht. Ihre Ansichten und theoretischen Überzeugungen hat sie, so will sie glauben machen, immer auch an ihrem Leben gewonnen, das sie selbst wiederum in Begriffen dieser Theorie beschreibt.

Man würde meinen, diese Inszenierung einer Einheit von Leben und Theorie sei längst obsolet. Doch das Gegenteil scheint der Fall: Mit sichtlichem Gefallen spielt sie die Rolle der weisen alten Dame, die kenntnisreich über dies und das zu erzählen weiß – und lag damit für Berlin goldrichtig. Denn den Vortrag, den die fast 70jährige am Samstag in der Berliner Galerie Friedrichstadt im Haus der Demokratie vor einem sanft dahinschmelzenden Publikum hielt, sprach sie nicht als Expertin in Sachen Psychologie, sondern als gebildete Amerikanerin, die es sich erlaubte, einmal großflächig über die Lage der Zeit zu fabulieren.

Das muß man sich einmal vorstellen: Da kommt die Dame eigens aus Boston geflogen und erzählt einem Haufen Ärzten, Psychologen und Wissenschaftlern, für wie problematisch sie derzeit die allerorts zu beobachtende Flucht in die Nation hält und wie sie es findet, daß man auf dem Postamt in Massachussetts eine Hiroshima-Marke drucken will, und daß sie Verständnis habe für die Sehnsucht der Ossis nach der guten alten Zeit.

Bemerkenswert allerdings war ihre Zuhörerschaft. Tenor: Sag mir, was du erlebt hast, und ich glaube dir aufs Wort! Die TeilnehmerInnen des seit Wochen ausgebuchten Workshops, der den Vortrag begleitete, dankten Sophie Freud für ihre Auslassungen in einer Weise, als hätten sie soeben eine Offenbarung erlebt. Mit ihren halbgenauen Reden aus der eigenen Seele, in denen sie ein privates Detail ihrer Biographie unmittelbar mit einer allgemeinen Diagnose vermengt, stößt sie offenbar auf ein Bedürfnis, auf das die wissenschaftliche Kultur, bestehend aus Experten und Fachzirkeln, längst nicht mehr antwortet: Wir wollen endlich mal wieder jemandem von ganzem Herzen glauben, auch wenn's nur das ist, was wir eh immer schon selber denken. Was wir brauchen, sind Vorbilder, hieß es unisono, als man in ein allgemeines Werteverfallgejammere einstimmte. Über ihren Auftritt als „Zeitzeugin“ staunte Sophie Freud am Ende selbst: So viel Ergebenheit bekommt man selten.

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