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Elend entfremdet im Paradies

■ WARHEITS-Essayist Walter Jens über Noah Gabriel, Poesie, Tennis und die Antike

Discite moniti: lernt, die Ihr (nun) gewarnt seid.

Aus meiner Aeneis

Ich war gerade dabei, einen Essay über Richard Wagner zu beenden, die ideologikritische, gesellschaftsbezogene Analyse seiner Geschichte, mit allen den Höhen und Tiefen, den Ungleichzeitigkeiten und Widersprüchen, von der er bestimmt war — eben die große Bestandsaufnahme, als meine Frau und Schriftstellerkollegin Inge meine Tübinger Klause am Philosophenweg betrat und dem Herolde gleich Kunde tat davon, ein Knäblein sei geboren: „Momos, der Boris hat ein Kind.“

Wie? Der Leser stockt: Das kann doch nicht wahr sein! Thomas Mann hätte gesagt, es putzt. Da sterben große Autoren, und das Programm wird nicht unterbrochen, nur wenn ein badischer Tennisspieler, der nicht einmal das Gerundium als Prohibitiv beherrscht, niederkommen läßt, ja dann... Ja, dann, kann ich nur mit Bertolt Brechts Satz kommentieren: „Nachbarin, Euren Speikübel bitte.“

Ich halte inne. Der Augenblick ist gekommen, mich zu offenbaren. Wahr ist, in meinen 71 Jahren floß kein Bier je über meine Lippen, gleichwohl bin ich, coincidentia oppositorum, emotionaler Wallung nicht abhold. Ach, das Schönste geht doch nicht verloren. Noch heute ist mir die Aufstellung des Eimsbüttler SV von 1932 geläufig wie die Poesie von Schiller und Euripides. Sport, ja, doch, ist in mir, und nichts ist so nachdenkenerregend wie ein Blick auf diese Trias Autorität, Disziplin und Unterwerfung. Sophokles und Matthäus, Klinsmann und Aischylos, Steffi Graf und Sokrates. Ein Spiel auf des Messers Schneide, es erregt mich nicht minder als ein Hexameter.

Nur, ist es heute noch Spiel, war es jemals Spiel, was in der Arena passiert, dieser Orchestra, deren antikes Vorbild schon viereckig war? Eine Orchestra, in der es so bunt und turbulent zugeht wie vor zweieinhalb Jahrtausenden, in jenen griechischen Zeiten, als Frauen auf den Stufen saßen und, wie berichtet wird, beim Anblick des Getümmels, Sturzgeburten bekamen.

Nun also Noah Gabriel. Einer, der aus dem Dunkeln ins Licht als einer unter Millionen in unsere Hast-Du-was-bis-Du-was-Gesellschaft gestoßen wurde. Der Vater, Chef de famille, rastlos unterwegs wie Odysseus, und es scheint, als habe er unwissend-weise von diesem gelernt, den Jungen nicht zurückzulassen, damit er den Vater nach Jahren nicht mehr erkenne, wie es dem antiken Helden widerfuhr — vom Hund allein bekam der ein Willkommen nach langer Fahrt. Becker, eine Figur Homers? Nicht den Sirenen lauscht der Tennisrecke, sondern dem Lärm der New-Kids-on-the-block, seine Akropolis ist ein nüchternes Hochhaus, sein Fluchtort das (Steuer-) Paradies!

Fürwahr, das nenne ich ein elendes Dasein, gnadenlose Entfremdung. Kein Vorblick auf eine Welt der Freien und Gleichen. Das Spielfeld wirkt klein, das Netz ist riesengroß.

Walter Jens, 71, Schriftsteller und Professor für angewandte Redekunst, hat sich immer wieder mit dem Phänomen Sport auseinandergesetzt. Früher Torwart einer Studentenmannschaft, heute Mitglied der Akademie der Künste, nimmt der „Tübinger Furor“ (Stuttgarter Zeitung) gern Stellung zum aktuellen Zeitgeschehen.

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