: Im Schatten des Vernichtungslagers
Vom Leben in Auschwitz /Die vergessene jüdische Vergangenheit, ein Pogrom und das Kloster ■ Aus Auschwitz Klaus Bachmann
Ein bißchen anders ist es schon, in Auschwitz zu leben.“ Der alte Mann mit der Ledermütze vor dem Café am Markt legt den Kopf schief und denkt nach. „Es kommen mehr Touristen. Es kommt mehr Geld. Wir können mehr renovieren.“ Mit einer ausladenden Geste zeigt er auf die umstehenden Gebäude rund um den Markt der südpolnischen Kleinstadt. Mitten auf den Markt haben Polens Kommunisten in den siebziger Jahren einen großen Beton-Glas-Pavillon gestellt. Was immer in der Stadt häßlich ist, es wird von diesem Pavillon noch übertroffen. Doch der alte Mann lebt schon zu lange in der Stadt, als daß ihm das noch auffiele. Eine Frau mischt sich in das Gespräch. Doch, im Ausland sei es schon etwas Besonderes, wenn man sage, man lebe in Auschwitz. „Was, fragen sie dann, in einem KZ lebt ihr?“
Auschwitz, das eigentlich Oświecim heißt, ist ein 50.000-Einwohner-Städtchen südöstlich von Kattowitz mit einem bekannten Hockeyklub, einem Eisenbahnknotenpunkt und einer Menge katholischer Kirchen. Das war nicht immer so. Vor dem Krieg war die Mehrzahl der Einwohner jüdisch. Ein jüdischer Bürgermeister regierte die Stadt, die damals nur 13.000 Einwohner hatte, es gab mehrere Synagogen, einen jüdischen Friedhof, jüdische Sportvereine und Einrichtungen. Daran erinnert kaum noch etwas. Heute, so berichtet der Mann mit der Ledermütze, gebe es nur noch einen einzigen Juden – ein Überlebender des Vernichtungslagers, der zurückgekehrt ist. Er spreche mit niemandem außer seinem Bruder, der ihn in regelmäßigen Abständen besuche, um ihn dazu zu bewegen, mit ihm nach Amerika auszuwandern. Umsonst jedoch. Der alte Mann wolle in Auschwitz sterben.
In Auschwitz gibt es eine Straße, die im Volksmund bis heute die „jüdische“ heißt. Ganz in ihrer Nähe lebt der letzte Rom von Auschwitz, Roman Kwiatkowski, ein weltoffener, redseliger und gastfreundlicher Mann. Er ist mit einer Polin verheiratet, Geschäftsmann und Vater zweier Söhne, mit denen er sich in der Sprache der polnischen Roma unterhält. Bis in die siebziger Jahre war Romans weitläufige Familie eine der zahlreichen landfahrenden Zigeunerfamilien, die Polens Polizei vergeblich versuchte seßhaft zu machen. Ein freies Volk, das umherzog, keiner geregelten Arbeit nachging und Handel trieb, paßte nicht in die kleinbürgerliche Vorstellungswelt kommunistischer Apparatschiks. Die Roma wurden unter Polizeibewachung in Sozialwohnungen angesiedelt. Romans Familie erwischten sie, als sie sich gerade in Auschwitz aufhielt, also blieben sie da. Daß Romans Mutter Opfer von Mengeles pseudomedizinischen Versuchen und das KZ Auschwitz Ort der Vernichtung der polnischen Roma gewesen war, spielte dabei keine Rolle. Roman blieb in der Stadt, heiratete, wurde seßhaft und ein angesehener Bürger. So schien es ihm, bis sich aus einer harmlosen Streiterei zwischen einem Rom und einem Polen in einem Laden 1981 – mitten in der Solidarność-Euphorie – ein Pogrom entwickelte.
Was seine Mitbürger dazu brachte, in Auschwitz 37 Jahre nach dem Holocaust an den polnischen Roma brandschatzend, grölend und plündernd durch die Stadt zu ziehen, verstehen er und seine Frau bis heute nicht: „Das waren unsere Freunde und Nachbarn. Viele von ihnen kannten wir seit langem. Plötzlich hatten sie Prügel in der Hand, schrien, wir sollten aus der Stadt verschwinden, und wollten uns umbringen.“ Erst Sondereinsatzkommandos der Polizei aus der Umgebung machten dem Spuk ein Ende. Kwiatkowski: „Die Täter leben bis heute unbehelligt in der Stadt. Nur der Rom, der an dem Streit in dem Laden beteiligt war, wurde drei Monate eingesperrt.“
Plötzlich ging der Mob in der Stadt auf die Roma los
Wieder wurde es leer in der „jüdischen Straße“. Ein behördlich geförderter Massenexodus von Auschwitz nach Schweden setzte ein – auch Roman wanderte aus. Er kam Anfang der neunziger Jahre wieder zurück: „Polen ist meine Heimat“, sagt er, „wohin sollte ich denn? Ich bin doch Pole.“ Kwiatkowski ist, wie alle polnischen Roma, katholisch. Seine Heimatliebe hat man ihm nicht gedankt. Am 4. Januar 1992 stand der Mob wieder vor seinem Haus, warf Steine und drohte mit Feuer. Auch dieser Vorfall wurde nie aufgeklärt. „Ich bin der einzige Rom von Auschwitz, der aus Schweden zurückkam“, sagt er. „Alle anderen kommen nur, um hier ihre Verwandten zu begraben. Danach ziehen sie weiter. Selbst den Leichenschmaus halten sie woanders.“
In der offiziellen Chronik der Stadt – zu kommunistischen Zeiten verfaßt, nach der Wende gedruckt und bis heute von der Stadtverwaltung verteilt – wird der Pogrom verschwiegen. Das Vernichtungslager, heute ein Museum, kommt darin vor: „1947 wurde das Staatliche Museum Auschwitz- Birkenau als Denkmal der Martyriologie des polnischen Volkes und anderer Völker gegründet.“ Diese Version galt vierzig Jahre lang, und für die meisten Bürger von Auschwitz deckte sie sich mit ihren eigenen Erfahrungen: Das Lager war schließlich schon 1940, lange vor dem Anlaufen des Holocaust und der Inbetriebnahme der Gaskammern, speziell für Polen gegründet worden. Polen waren die ersten Opfer gewesen. Schon 1941 wurden auf dem Gelände der sogenannten Kiesgrube 80 polnische Häftlinge, darunter bekannte Intellektuelle, erschossen. An dieser Stelle stehen heute das umstrittene Karmeliterkloster, ein überdimensionales Kreuz und ein Schild, das auf die polnischen Erschossenen hinweist. Im vergangenen Jahr beschloß der Stadtrat von Auschwitz, neben dem Kreuz ein zwei Meter hohes Denkmal für die polnischen Opfer der Kiesgrube zu errichten.
Die Nonnen des Karmel sind vor über einem Jahr ausgezogen; nach jahrelangen Protesten jüdischer Organisationen, die in ihrer Anwesenheit und dem Kreuz einen Versuch sahen, Auschwitz zu polonisieren. Faktischer Hausherr ist nun Janusz Marszalek, Gründer einer Stiftung zum Bau eines Kinderdorfes für Waisenkinder in Rajsko, drei Kilometer hinter dem Lager. Als Rabbi Weiss, der bekannteste und radikalste Gegner des Karmel, bei der jüngsten Demonstration vor dem Karmel-Gebäude auftauchte, lud Marszalek ihn herein. „Wir hatten eine offene Diskussion, nach der wir uns freundlich voneinander verabschiedeten, ohne uns gegenseitig zu überzeugen“, berichtet Marszalek. „Der Rabbi verlangte von mir als Hausherrn, das Kreuz zu beseitigen. Ich erklärte ihm, daß ich das als Katholik nicht könne. Wäre da ein Davidstern und mein Bischof verlangte von mir, ihn abzunehmen, würde ich mich auch weigern.“
Das Lager soll ein polnisches Museum sein
In einem öden sozialistischen Wohnblock am Stadtrand von Auschwitz sitzen in einer engen Zweizimmerwohnung drei Männer zusammen. In der Küche hantiert eine Frau. Auf dem Tisch vor den dreien Wurst, Brot, Tee, Butter, marinierte Pilze. Kein Alkohol. „Wir müssen uns dem Versuch, Auschwitz zu judaisieren, entgegenstellen“, sagt Andrzej Skrzysinski, Student an der päpstlichen theologischen Akademie zu Krakau. Die drei Männer kommen gerade vom Standort des Kreuzes, wo sie jeden Nachmittag punkt fünf Uhr laut und vernehmlich für die Rückkehr der Nonnen beten. Dabei hängen sie Plakate an den Zaun, der die Kiesgrube begrenzt: „Verteidigen wir das Kreuz in der Kiesgrube vor dem nächsten Angriff der Juden und Freimaurer, Schwestern kommt zurück, wenn die Zeiten der gottlosen Juden vorbei sind.“ Antisemitismus? Andrzej schüttelt den Kopf. „Wir haben nichts gegen die Juden. Wir kommen ja auch nicht auf die Idee, Gedenkstätten in Palästina verändern zu wollen.“ Der ältere von ihnen meldet sich zu Wort: „Auschwitz ist ein polnisches Museum, wir sind hier in Polen.“ Das klingt trotzig. Doch aus den Worten der drei klingt eher ein Gefühl der Bedrohung.
Jahrzehntelang war Auschwitz in Polen unbestritten ein Symbol polnischen Leidens. Dafür standen Kloster und Kreuz. Nun stellt das jemand in Frage. „Warum stören die Nonnen jemanden?“ fragt der Theologiestudent, „sie haben doch auch für die Juden gebetet.“ Daß der polnische Papst die Nonnen am Ende aufforderte, auszuziehen, ist für sie unverständlich. Andrzej erklärt es sich so: „Der Einfluß der Juden in der Welt muß so unendlich groß sein, daß selbst der Papst nachgeben mußte.“ Durch ihre Anwesenheit wollen sie demonstrieren, daß nicht alle die Nonnen aufgegeben haben. Wenn das Kreuz verschwindet, verschwindet auch ein Teil ihrer Identität als Polen, der Opfer von Auschwitz. Keiner von ihnen war alt genug, das noch zu erleben, nur Jozef Butko, der Gastgeber in der Wohnung, arbeitete als freiwilliger Sanitäter nach der Befreiung des Lagers bei der Verpflegung der Überlebenden mit.
Doch in ihrem Bewußtsein spielt die Vergangenheit ihres Volkes als Opfer eine dominierende Rolle. Leidensgeschichte als nationale Sinnstiftung. Wie eine Versöhnung zwischen Juden und Polen aussehen könnte? „Wir knien gemeinsam vor dem Kreuz nieder und beten.“ Die Bekehrung der Juden zum katholischen Glauben haben sie jetzt schon auf ihren Plakaten stehen. Schließlich soll man seine Feinde ja lieben.
Das „Komitee zur Verteidigung des Kreuzes“ ist eine kleine Gruppe, die lange Zeit in Auschwitz überhaupt niemand bemerkte. „Ab und zu gesellten sich Neugierige zu uns; Pfarrer und einmal eine Jugendgruppe, die mitbetete“, erzählt Andrzej auf dem Rückweg nach Krakau. In Krakau gebe es eine Gruppe von 50 Gläubigen, die einen Verein zum Schutz des Kreuzes gegründet hätten. „Das rührt dort noch aus der Zeit, als wir in Nowa Huta das Kreuz verteidigt haben.“ In den sechziger Jahren versuchten die kommunistischen Machthaber, die Errichtung einer Kirche im Krakauer Arbeitervorort Nowa Huta zu verhindern. Die Gläubigen stellten ein Kreuz auf und verteidigten es in regelrechten Straßenkämpfen gegen die Polizei. Für Andrzej hat sich seither nichts Grundlegendes geändert: Die Feinde des Kreuzes seien immer noch an der Macht. Heute würden sie sich nur nicht mehr Kommunisten nennen.
Mehrheitsfähig sind diese Ansichten des Komitees kaum. Den Auszug der Nonnen verstehen die Bürger der Stadt allerdings ebensowenig. Auf dem städtischen Marktplatz hat sich eines der zahlreichen Fernsehteams aufgebaut, die vor den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers angereist sind. Frage: War es richtig, daß die Nonnen gingen? „Nein“, erklärt eine Hausfrau, „das Kloster hatte mit dem Lager ja nichts zu tun.“ – „Nein“, sagt ein älterer Mann „die Nonnen hatten das Haus ja selbst renoviert.“ – „Nein“, sagt ein junges Mädchen, „schließlich sind in Auschwitz auch Polen umgekommen, sogar noch vor den Juden. Das Lager gehört allen.“ Nur aus dem Hintergrund zischelt es aus einer Gruppe ärmlich bekleideter Greise mit verhärmten Gesichtern: „Man weiß ja, wer in Wirklichkeit das Sagen hat – die Juden. Die Juden herrschen in Polen und deshalb mußten die Nonnen gehen.“ Doch als sich die Kamera umwendet, sind die Greise zwischen den Marktständen verschwunden.
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