„Ich bin kein Heiliger“

Der Eishockey-Torwart Karl Friesen geht nach langer erfolgreicher Karriere in Deutschland zurück in seine Heimat Kanada  ■ Aus Rosenheim Holger Gertz

Vormittags ist die Eisfläche im Rosenheimer Stadion für die Kleinen frei. Mitten auf der Bahn rangelt eine wuselige Taube um den Puck, aber im Tor steht einer, vielleicht zehn, elf Jahre alt, der macht keine Faxen. Zappelt nicht, ruft nicht rein, beobachtet nur, wie die anderen sich gegenüber um die Scheibe streiten. Plötzlich macht sich einer davon, stürmt auf das Tor zu und schießt, aber der Kleine zuckt nur kurz mit dem Fangarm und hat den Puck. Die Verteidiger waren nicht da, wo sie hätten sein sollen, aber er schimpft nicht mit ihnen. Er gibt den Puck raus, das Spiel soll weitergehen, schon steht er wieder in Position; schweigsam aufmerksam. So wie Karl Friesen.

Karl Friesen, der echte, sitzt ein paar Meter weiter im Vereinslokal und sagt, er erkenne sich in dem kleinen Keeper wieder und in vielen anderen in Rosenheim und Umgebung. Er merke, sagt er, daß die gut zugeschaut hätten bei seinen Spielen und ihn nachmachten, „sogar, wenn das Spiel unterbrochen ist. Dann wischen sie mit der Kelle übers Eis, als wenn sie es sauberfegen wollten. Das habe ich auch immer getan.“

Das mit dem Fegen ist eine Marotte, ein Versuch, die innere Ordnung wiederzufinden, sich nicht ablenken zu lassen von dem Trubel drumherum. Ein Eishockeytorwart braucht Ruhe. Und weil Karl Friesen, 36, immer die Ruhe in Person war, wollen die Kleinen so sein wie er. Vielleicht wird der eine oder andere Nacheiferer irgendwann als Profi spielen, und Karl Friesen hält es für einen schönen Gedanken, „daß auf diese Art etwas von mir in Deutschland bleibt“.

Friesen wird gehen. Im Sommer ist er Meister geworden mit Hedos München, die sind danach Pleite gegangen, und der Torwart mußte überlegen, ob er noch mal wechselt oder die Sache beendet nach 500 Spielen in der Bundesliga, 109 Länderspielen, vier Meisterschaften (drei davon mit Rosenheim) und einem unglücklichen Intermezzo in New Jersey. Er hat nicht lange grübeln müssen, „am Ende der Saison wäre es eh vorbei gewesen“, was kommt es da auf die paar Monate an. Zurück nach Winnipeg/Kanada geht es mit Frau Judy und den Kindern Joel und Kristy. Der Nachwuchs wird sich fortan allein in Englisch verständlich machen müssen, was noch schwerfällt. „I am totally durcheinander“, habe der Sohn neulich gesagt, erzählt Friesen: „In Kanada versteht das ja kein Mensch.“

Joel muß sein Englisch auf Vordermann bringen, der Vater freut sich, dahin zurückzugehen, woher er vor fünfzehn Jahren kam, auch wenn es schön war in Deutschland. „Ich bin insgesamt zufrieden, hochzufrieden“, sagt Friesen, nur der Konkurs zum Abschluß der Karriere ist noch nicht verwunden, die Enttäuschung war zu groß. Nicht über die wacker kämpfende Mannschaft, „vor der habe ich Hochachtung“, aber über das Präsidium. Vor einem Jahr hatte Chef Eberhard Jülicher den Spielern eine Bilanz gezeigt, auf der Schulden von 2,4 Millionen Mark beziffert waren. Das könne man abbauen, hieß es, die Spieler wollten die Sanierung mitmachen, „aber dann waren es plötzlich sechs Millionen Schulden und dann noch mehr. Die haben uns belogen“. Das trifft einen besonders, der es sich zum Grundsatz gemacht hat, „die Leute so zu behandeln, wie ich selbst behandelt werden will“, ehrlich zu sein, anständig. Friesen ist Mennonit, Anhänger einer protestantischen Freikirche, deren Mitglieder im 18. Jahrhundert nach Nordamerika auswanderten. Er liest täglich in der Bibel, früher hat ihm ein Versprechen statt eines Vertrages gereicht: „Es hat immer alles geklappt. Und dann München: Das war schlimm.“

Daß ihn so was überhaupt trifft, hat manche überrascht. So ein gläubiger Mensch stehe doch wohl über den Dingen, aber Friesen sagt: „Ein Heiliger bin ich nicht.“ Als den haben ihn manche verkauft, in den Stand des Laienpredigers erhob ihn ein Boulevardblatt. Dabei, sagt Friesen, habe er nur ein paar Mal in der Gemeinde „aus meinem Leben erzählt“. Daß er keinem was zuleide tun könne auf dem Eis, ist auch nur teilweise richtig. Beim letzten Finale ist ihm der Düsseldorfer Angreifer Andreas Brockmann ins Gebein gerutscht, „wir lagen beide im Tor, und da habe ich ihm mit meinem Fanghandschuh so ins Gesicht geschlagen“. Manchmal sei halt Aggressivität dabei, „das ist ganz normal“, sagt Friesen, dem die Sache aber nicht aus dem Kopf ging. Nach dem Spiel ist er zu Brockmann gegangen und hat sich mit ihm ausgesprochen, im Sommer haben sie zusammen Golf gespielt.

Trotzdem, die Fäustelei mit Brockmann war eine Ausnahme, und auch wenn Friesen gern so tut, als sei er einer von vielen: Die, die ihn gut kennen, heben ihn heraus. Bei der WM 1982 hat er ein sensationelles Spiel gemacht, die Deutschen siegten gegen die ČSSR mit 4:2, zum ersten Mal seit 45 Jahren. Danach, sagt Xaver Unsinn, damals Bundestrainer, hätten dem Keeper alle gratuliert, aber Friesen sei das unangenehm gewesen, und viel reden hätte er auch nicht mögen über die Leistung. „Der war immer gleich“, sagt Unsinn, „auch beim größten Sieg. Der hat gewonnen, und dann ging es normal weiter. Der ist nie ausgeflippt.“

Am 6. Februar wird die Eisfläche im Rosenheimer Stadion noch einmal frei gemacht für Friesen. Ein Abschiedsspiel mit der 82er- Meistermannschaft; Karl Friesen wird im Tor stehen, nicht zappeln, nicht reinrufen, nicht mit seinen Verteidigern schimpfen. Wenn das Spiel unterbrochen ist, wird er mit der Kelle über das Eis wischen, als wolle er es säubern. Und ansonsten nichts weiter tun, als gut zu halten. Man solle hingehen, man solle ihn sich noch einmal ansehen, sagt Xaver Unsinn: „Bald ist er weg. Und einen wie ihn wird es nicht mehr geben.“