Kleiner Mann ganz groß

■ Fast zwanzig Jahre dauerte es, bis 1963 im Frankfurter Auschwitz-Prozeß die Täter vor Gericht standen. Stefan Baretzki war einer von ihnen. Seine Zeit in Auschwitz war die einzige seines Lebens, in der er anderen...

Baretzki wurde im Jahr 1919 in Czernowitz in Rumänien geboren. Sein Vater, Telefonmechaniker, starb, als Baretzki 19 Jahre alt war. Der Angeklagte besuchte die Volksschule und wurde anschließend als Strumpfwirker ausgebildet. Er arbeitete dann als Maschinenführer in einer Strumpffabrik in Czernowitz. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Rumänien wurde er – soweit sich das noch feststellen läßt, Ende 1940 – nach Deutschland als „Volksdeutscher“ umgesiedelt. Baretzki spricht bis heute ein gebrochenes, manchmal schwer verständliches Deutsch. Er ging durch verschiedene Umsiedlungslager und war als Kraftfahrer bei einer Speditionsfirma in Oberschlesien tätig.

Im Herbst 1941 wurde Baretzki zur Waffen-SS eingezogen und nach Auschwitz kommandiert. Er blieb dort bis zur Evakuierung des Lagers und wurde erst nachher zum SS-Rottenführer befördert – hat also von allen angeklagten SS- Angehörigen in diesem Prozeß den niedrigsten Dienstgrad gehabt.

Nach der Evakuierung von Auschwitz wurde Baretzki zur SS- Division „30. Januar“ versetzt und geriet Anfang Mai 1945 in russische Gefangenschaft, aus der er am 17. August desselben Jahres entlassen wurde. Er siedelte sich in Plaidt bei Koblenz an und war zuletzt als Arbeiter bei einer Kohlenhandlung beschäftigt. Im Mai 1953 wurde er im Zusammenhang mit einer Schlägerei zu 21 Tagen verschäften Arrests verurteilt, im April 1955 erhielt er wegen Widerstands gegen die Staatsgewalt eine Geldstrafe von 75 Mark und 14 Monate später wegen Körperverletzung eine weitere Strafe von 300 Mark. Baretzki ist ledig.

Seit dem 12. April 1960 befindet sich dieser Angeklagte in Untersuchungshaft. Vor Gericht verantwortet er sich folgendermaßen:

Baretzki: Als Blockführer mußte ich turnusweise zur Rampe gehen, wenn ein Transport ankam. Ich hatte nur die Häftlinge des Kanada-Kommandos hinzubringen und konnte dann praktisch weggehen. Ich bin aber nicht weggegangen, denn es gab ja dort etwas zu organisieren. Ich hatte ja Hunger wie die Häftlinge auch.

Vorsitzender: Wer hat denn die Selektionen durchgeführt?

Baretzki: Die Offiziere.

Vorsitzender: Sie nicht?

Baretzki: Nein, nur die Offiziere, noch nicht einmal ein Sanitäter kam da ran. Herr Vorsitzender, die Kommission bestand meistens aus Offizieren. Was glauben Sie, was die da gemacht hätten, wenn da ein Sturmmann herumläuft.

Vorsitzender: Sie werden beschuldigt, daß Sie mit einem Spezialschlag Häftlinge getötet haben.

Baretzki: Herr Vorsitzender, ich besitze überhaupt keinen Spezialschlag. Die einen sagen, ich benutze einen Spezialschlag, da brauche ich ja keinen Stock. Die anderen sagen, ich habe einen Stock, da brauche ich ja keinen Spezialschlag.

Vorsitzender: Ein Zeuge sagt, Sie hätten in Birkenau einen Häftling mit der Pistole erschossen.

Baretzki: Ich habe aus meiner Pistole nur einmal geschossen. Da war ich noch im Wachsturm und tat Dienst im Turm. Ich mußte auf einen Häftling schießehn, weil er in die Sperrzone vor dem elektrisch geladenen Draht gelaufen war, um Selbstmord zu begehen. Man mußte in solchen Fällen schießen. Mit einem Satz ist der Häftling im Zaun. Selbst wenn man ihn trifft, kommt der Häftling noch an den Draht. Wenn es einer trotzdem fertigbrachte, ihn vorher zu erschießen, bekam er sieben Tage Urlaub.

[...]

Viele Zeugen, die als Häftlinge in Birkenau waren, kennen Baretzki:

Gwozdzik: Wir hatten Angst vor Baretzki. Einmal ist Baretzki mit dem Arbeitsdienstführer des Frauenlagers in unseren Block – es war Block 5 – gekommen. Sie haben einen Juden dorthin geführt. Fünf Minuten später lag dieser Jude tot im Block, er hatte ein blutverschmiertes Gesicht. Die beiden SSler sind mit ihm in den leeren Block gegangen.

Vorsitzender: Wissen Sie, ob Baretzki und nicht der Arbeitsdienstführer den Häftling getötet hat?

Gwozdzik: Einer von beiden muß ihn getötet haben oder beide gemeinsam.

Staatsanwalt Vogel: Bei Ihrer seinerzeitigen Vernehmung sagten Sie, daß nur Baretzki als Täter in Frage kam.

Gwozdzik: Ich weiß nur, daß sie zu zweit waren.

Vogel: Wie war das Verhalten Baretzkis sonst?

Gwozdzik: Er hat die Arbeitskommandos am Tor gefilzt und dabei geschlagen. Es verging kein Tag, an dem Baretzki nicht geschlagen hat.

Baretzki: Ich habe nie einen Menschen in Birkenau totgeschlagen. Ich bin erst am 24. Juli oder im August 1943 Blockführer geworden.

Ein polnischer Zeuge erinnert sich an einen ähnlichen Vorfall:

Szpalerski: Ich kenne den Blockführer Baretzki. Wir hielten ihn für einen Volksdeutschen aus Lodz. Sein Name war im ganzen Lager bekannt. Am besten habe ich Baretzki kennengelernt, als er mir 25 gab. Das war im Sommer 1943. Er hat mich mit dem Stock während der Arbeit geschlagen und auch diese Strafe selbst angeordnet.

Einmal beim Appell kam er zu unserem Block und wurde auf ein paar Griechen aufmerksam gemacht, die nicht ordentlich in der Reihe standen. Bei ihm war ein junger SS-Mann, der eine Brille trug. Beide Griechen wurden in den Block gejagt, in den auch die SSler gingen. Von der Baracke hörten wir dann furchtbares Schreien. Nach dem Appell haben wir beide tot gefunden.

Vorsitzender: War außer Baretzki noch jemand in der Baracke?

Szpalerski: Ja, wie waren zu zweit. Beide SS-Leute sind hineingegangen.

Vorsitzender: Haben sie Leichen später gesehen?

Szpalerski: Ja, aber der Stubendienst hat sie gleich weggetragen. Mißhandlungen und Prügeleien hat man in Birkenau oft gesehen.

[...]

Der Zeuge Polak war Blockältester in Birkenau:

Vertreter der Nebenklage, Ormond: Haben Sie gesehen, daß der Angeklagte Baretzki geschlagen hat?

Polak: Ja, das habe ich gesehen. Er prahlte damit, daß der gleich umfällt, den er einmal schlägt. Er hat mit Hand und Ellbogen geschlagen. Dann trat er auch in gefährliche Stellen. Ich habe manche Opfer von ihm nachher im Krankenbau gesehen. Ich kann mich genau an einen Juden erinnern, der lag im Sterben. Er war so getreten, daß die Genitalien derart geschwollen waren und so voll Eiter, daß man es nicht beschreiben kann. Er sagte, Baretzki hätte das gemacht. Später hat mir der Blockälteste mitgeteilt, daß dieser Jude nicht mehr lebt.

Der ehemalige Häftlingsarzt im Quarantänelager Birkenau erinnert sich so an Baretzki:

Dr. Wolken: Ich habe den Angeklagten Baretzki gekannt, weil er zeitweise Blockführer im Quarantänelager war. Ich habe gesehen, wie am 15. April 1944 auf dem Appellplatz vier SS-Männer – darunter Baretzki – auf Häftlinge eingeschlagen und auf sie geschossen haben. Elf Häftlinge wurden damals erschossen.

Vorsitzender: Hat auch Baretzki geschossen?

Dr. Wolken: Alle haben geschossen. Es sind jetzt 20 Jahre dazwischen. Ich sah damals keinen SS-Mann, der nicht schoß.

Vorsitzender: Woher wissen Sie, daß elf Leute erschossen worden waren?

Dr. Wolken: Das stand nachher im Totenbuch.

Auch Mikusz hatte dank seiner Funktion einen größeren Überblick über die Vorkommnisse in Birkenau; er war dort im „Arbeitseinsatz“:

Mikusz: Im Spätherbst 1944 kam nach dem Aufstand in Warschau ein Transport von dort ins Lager. Es waren vielleicht 300 Häftlinge. Die Neuzugänge mußten immer erst marschieren, grüßen und exerzieren lernen. Die beiden Blockältesten Wacek und Franek Kataszynski, richtige polnische Teufel, haben die Neuzugänge mißhandelt, wo sie nur konnten. Das war so schlimm, daß schließlich die Häftlinge davonzulaufen versuchten. Dabei kamen Häftlinge zu nahe an den Draht heran, und die Posten schossen in das Lager. Damals haben auch Baretzki, Grabatkin und der Rapportführer Kurpanik geschossen. Es war ein furchtbares Durcheinander im Lager. Das war kurz vor dem Appell. Ich habe gesehen, daß Baretzki zwei Häftlinge getroffen hat. Auch die anderen haben mehrere getroffen. Dabei war Baretzki ein schlechter Schütze. Ich habe früher einmal gesehen, wie er einen Zigenuer anschießen wollte und nicht getroffen hat.

[...]

Sachlich und nüchtern sagt ein Zeuge aus, der als Elektriker in Birkenau eine Sonderstellung hatte:

Porebski: Ich kannte den Blockführer Baretzki und habe öfters mit ihm gesprochen. Er spricht fließend Polnisch. Er fragte mich, wo ich geboren bin und und ob ich aus der Bukowina stamme. Später habe ich mich öfters mit ihm unterhalten. Mir gegenüber war er immer korrekt.

Vorsitzender: Haben Sie gesehen, daß er Häftlinge mißhandelt hat?

Porebski: In meiner Gegenwart tat er das nicht. Ich glaube, er hat sich vor mir etwas geniert. Aber ich sah, daß er einmal auf einen Häftling schoß. Es war am Abend zur Zeit der Essensausgabe. Ich sah, wie ein SS-Mann einen Häftling in der Baracke erschoß. Als sich der SS-Mann umdrehte, konnte ich erkennen, daß es Baretzki war. Ich habe noch gesehen, wie er aus dem Block herausging. Später einmal – es dürfte im Frühling 1944 gewesen sein – sah ich, wie er einen Häftling mit dem Vornamen Michail – dee hatte eine Häftlingsnummer um 80.000 herum – geschlagen hat. Als ich wieder ins Lager zurückkam, habe ich nach dem Häftling gefragt. Man sagte mir, er lebt nicht mehr.

Vorsitzender: Wo hat sich der erste Fall abgespielt?

Porebski: Im Lagerabschnitt BIb.

Vorsitzender: Wo sind Sie währenddessen gestanden?

Porebski: Ich war im Block. Nach dem Schuß habe ich Baretzki im Profil erkannt. Der Häftling lebte nicht mehr. Der Blockälteste trug die Leiche hinaus und legte sie neben den Block. Erst nach dem Appell durfte die Leiche fortgeschafft werden, damit der Appell stimmt. Ich weiß nicht, warum Baretzki damals den Häftling erschossen hat. Es wurden öfters Häftlinge ohne jeden Kommentar erschossen.

Vorsitzender: Wissen Sie, was das für ein Häftling war und wo Baretzki ihn getroffen hat?

Porebski: Es war ein Jude, und Baretzki traf ihn etwas hinter dem Ohr. Ich habe die Leiche gesehen.

Baretzki: Ich kenne diesen Zeugen. Er war immer nur im d-Lager. Sie kamen doch jeden Tag um 4 Uhr zu uns?

Porebski: Ja, ich erinnere mich. Wir haben miteinander polnisch gesprochen. Als ich einmal verbotene Sachen ins Lager brachte, haben Sie mich revidiert. Sie haben mich hinter die Küche geführt und mir dann erlaubt, die Sachen ins Lager zu nehmen. Erinnern Sie sich nicht an unsere Gespräche damals? Ich habe viele Medikamente ins Lager gebracht, und wir haben oft miteinander gesprochen.

[...]

Bodek: Ich bin im Frühling 1943 nach Birkenau gekommen und habe Baretzki gleich am Anfang kennengelernt. Im Jahr 1944 war ich Pfleger im Krankenbaulager BIIf Birkenau. Ich erinnere mich, daß einmal Baretzki dort zu tun hatte. Kranke aus den Außenlagern sind in diesen Lagerabschnitt gebracht worden. Sie wurden im Waschraum entkleidet und mußten warten, bis sie ins Gas abtransportiert wurden. Ich glaube, sie waren aus Janina oder Golleschau. Es spielten sich höllische Szenen ab, denn die Kranken wußten, wohin sie kommen. Als die Lastautos kamen, standen Blockführer Spalier und jagten sie auf die Autos. Baretzki war dabei einer von den aktiven Treibern, er hat mit seiner Peitsche nachgeholfen. Alle Kranken waren nackt. Sie wurden zu den Krematorien IV und V gebracht. [...]

Vorsitzender: Mußten sich die Kranken auskleiden? Und wo mußten sie sich auskleiden?

Baretzki: Ja, sie haben sich ausgekleidet, aber doch nicht im Lager. Wenn man die ins Lager hineinläßt, dann ist es ja schon passiert. Sie müssen sich das vorstellen, da kommt am Samstag ein Auto oder zwei Autos, da steht ein Mann am Tor, ein anderer Blockführer ist in der Blockführerstube, und der Posten hält einen Schein in der Hand. Das Auto hält direkt vor dem Tor, der Chauffeur sagt: „Das ist eine Verlegung“, ich sperr' das Tor auf, das Auto fährt hinein, und da sind nun auf dem Auto zweierlei Sorten von Menschen. Der Fahrer wartet gar nicht, der kippt einfach, und da liegen die zweierlei Menschen durcheinander. Wie soll man sie da ordnen? Wie soll man da alle Nummern herausfinden? So was kommt auch vor. Der Alte frißt mich ja auf, wenn ich überstellte Leute ins Lager aufschreibe. Da rufe ich den Lagerältesten: „Danisch, laß sie alle stehen!“ In den Block kommen die sowieso nicht hinein, die versauen ihn ja nur ganz. Sie kommen nur in den Waschraum. Hier kommen sie auch nur nachts hinein, bei Tag stehen sie wieder draußen. Erst am Montag mittag kriegen sie das erste Essen, denn sie werden erst Montag früh zur Verpflegung gemeldet. Die Leute, die überstellt sind, die bekommen auch dann kein Essen, denn sie leben ja praktisch nicht mehr.

Vertreter der Nebenanklage, Ormond: Sie waren nach Ihrer Angabe in der Zeit vom März bis August 1943 Läufer, da konnten Sie doch ins Lager hinein?

Baretzki: Woher denn, ich hatte doch keinen Ausweis. Die Läufer, die sitzen in Auschwitz I, da heißt es „Läufer heraus!“, und ein Läufer führt nach Nowitz, ein anderer nach Jawischowitz oder nach Rajsko. Da habe ich meine Tasche, da kriege ich die Kuverts hinein, alles ist zu, ich unterschreibe den Empfang und setze mich aufs Fahrrad. Ich komm' nur im Lager bis zur Blockführerstube, in das Lager kommt doch keiner hinein, der Läufer hat im Lager überhaupt nichts zu tun. Auch der Spieß von der Kommandantur kommt nicht ins Lager hinein.

Ormond: Aber es gibt doch Kommandanturbefehle, in denen ausdrücklich erwähnt wird, daß Kinder nichts im Lager verloren haben. Es gibt eine Beschwerde darüber, daß Kinder im Lager waren. Es war also doch nicht ausgeschlossen, ins Lager hineinzukommen.

Baretzki: Was heißt hier, Kinder von SS-Angehörigen im Lager? Ein Kind ist ein Kind, und Kinder, das sind viele Kinder. Das war der Junge vom Schwarzhuber. Er war sechs Jahre alt und hatte eine Tafel um den Hals gehabt, wenn er ins Lager gegangen ist, seinen Vater zu suchen. Auf der Tafel ist gestanden, daß er der Sohn vom Schutzhaftlagerführer Schwarzhuber ist, damit sie ihn nicht schnappen und weg in die Gaskammer mit ihm. Er geht ja nur seinen Vater suchen.

Kaum ein Zeuge hat die Atmosphäre von Birkenau so plastisch schildern können wie Baretzki, der heftig gestikulierend vor dem Mikrophon steht. In der Erregung spricht er in Gegenwartsform – und Auschwitz wird beklemmend gegenwärtig. [...] Simon Gotland mußte im Aufräumungskommando auf der Rampe arbeiten:

Vorsitzender: Sie haben auf der Rampe arbeiten müssen. War der Angeklagte Baretzki auf der Rampe?

Gotland: Ja, ich habe ihn dort einige Male gesehen. Er hatte immer einen Stock in der Hand, er hat immer geschrien. Er war so aktiv, daß ich es nicht beschreiben kann. Einmal kam ein Zug mit etwa 3.000 Menschen. Ich war immer einer von den letzten, die am Zug waren. Die Menschen waren alle krank. Baretzki sagte mir: „Du hast 10 bis 20 Minuten Zeit, dann sind alle Menschen aus den Waggons!“ Eine Frau schrie laut, sie war gerade während der Geburt. Ich zog das Kind aus der Frau und habe es in Kleidungsstücke eingewickelt und neben der Frau auf den Boden gelegt. Dann brachte ich ein Lebensmittelpaket zur Mutter. Baretzki kam mit dem Stock auf mich zu und schlug mich und die Frau. Er schrie mich an: „Warum spielst du noch mit dem Dreck!“ und trat nach dem Kind, daß es fortfiel wie ein Fußball. Dann befahl er mir: „Bring die Scheiße hierher!“ Das Kind war tot. Als ich später wieder an die Stelle kam, war die Mutter auch tot.

Vorsitzender: Können Sie das mit ruhigem Gewissen beschwören?

Gotland: Ich kann das aus reinem Herzen beschwören, es war hundertprozentig schlimmer, als ich es hier sagte. Vielleicht war Baretzki krank, als er das tat.

Baretzki: Das mit dem Kind habe ich nicht gemacht. Ich habe schon beim Untersuchungsrichter gesagt, das ist gelogen, und habe deswegen eine Geldstrafe bekommen.

[...]

Der Zeuge Doering belastet Baretzki mit Verbrechen, die in der Voruntersuchung nicht bezeugt wurden:

Doering: Als einmal unser Kommando vom SS-Lazarett, wo wir zu arbeiten hatten, ins Lager marschierte, sah ich, wie Baretzki einen Häftling schlug. Der Häftling fiel hin, Baretzki trat ihn, und als der Häftling wiederaufstand, schlug er weiter auf ihn ein. Der Häftling lief dann in Richtung des Lagerabschnittes Mexiko davon. Baretzki schoß ihm zweimal nach. Der Häftling fiel zu Boden. Wir marschierten weiter ins Lager.

Vorsitzender: Wissen Sie, von wo dieser Häftling war?

Doering: Ich weiß nicht. Das geschah beim Einmarsch der Arbeitskommandos. Etwas weiter vor uns stand eine Kolonne von etwa 40 Häftlingen, wahrscheinlich gehörte er zu diesem Kommando. Der Vorfall hat sich im Herbst 1943 abgespielt. Ich erinnere mich jetzt noch an einen weiteren Vorfall im Zusammenhang mit Baretzki, den ich seinerzeit bei meiner Vernehmung nicht angegeben hatte. Er spielte sich etwa Mitte 1944 ab. Damals arbeite ich im Kommando Zerlegebetriebe. Das Kommando war sehr groß – ich glaube, wir waren 1.300 Häftlinge – und hatte Flugzeugwracks zu zerlegen. Die Arbeitsstelle war weit weg von Birkenau.

Ein russischer Häftling hatte sich während der Arbeit versteckt und war eingeschlafen. Das Kommando mußte zu Mittag antreten, und er fehlte. Funktionshäftlinge mußten suchen, der Häftling wachte durch den Lärm auf und kam heraus. Als er sah, daß das ganze Kommando angetreten war, lief er zu uns. Kapos gingen ihm entgegen, warfen ihn zu Boden und schlugen ihn mit Stöcken. Eine Gruppe von russischen Häftlingen, die in Reih und Glied stand, schrie daraufhin. Ein Kommandoführer – ich glaube, er hieß Schulz oder so ähnlich, er war jung und stark – sagte, dieser Protest wäre ein Aufstand. Deswegen wurden auch die anderen Häftlinge geprügelt. Als wir in das Lager zurückmarschierten, mußte ein Teil des Kommandos zur Strafe bei der Küchenbaracke stehen bleiben. Baretzki und andere SSler inspizierten diesen Strafappell. Mir ist es nach einiger Zeit gelungen, in die Baracke zu kommen; die Häftlinge der Feuerwache, die aufzupassen hatten, daß sich niemand entfernen konnte, paßten nicht genau auf. Nach etwa zwei Stunden Stillstehen fielen die ersten um. Daraufhin wurden sie geschlagen. Zwanzig Meter von dem Platz entfernt, wo die Häftlinge stehen mußten, war ein Wasserreservoir. Baretzki hat Häftlinge ins Wasser hineingeworfden – es dürften vielleicht fünf gewesen sein. Wenn diese versuchten, an den schrägen Wänden des Löschteichs herauszukommehn, hat sie Baretzki mit Füßen zurückgestoßen. Kiener konnte heraus. Ich wollte meinen Kameraden, die stehen mußten, etwas zu essen bringen, aber die Feuerwache paßte auf, und ich konnte nicht mehr hin. In der Nacht erzählten Kameraden, daß im Löschteich mehr als fünf ertrunken sind. Daß fünf ertrunken sind, habe ich selber gesehen. Das war noch zu der Zeit, als ich in der Kolonne stand.

Vorsitzender: Waren es mindestens fünf?

Doering: Es dürften vier bis sechs gewesen sein, also mindestens vier.

Vorsitzender: Dieser Vorfall ist noch nicht angeklagt. Die Staatsanwaltschaft wird wohl überlegen, ob sie eine Nachtragsanklage erhebt.

Doering: Es gibt auch noch andere Zeugen, die diesen Vorfall beobachtet haben.

Baretzki: So ein Vorfall hat sich überhaupt niemals abgespielt. Alle mußten ja den Appell mitmachen. Erst kommt der Appell, und dann kommt die Strafe. Das ist nicht wahr.

Vorsitzender: Mußte Ihr Kommando nach dem Appell stehen bleiben?

Doering: Wir traten nicht zum Appell an, ein Teil unseres Kommandos blieb bei der Küche stehen, wurde dort gezählt.

Baretzki: Das ist unmöglich, wie soll man da einen Appell machen? Die Häftlinge waren ja aus verschiedenen Blocks, der Appell wäre ganz durcheinandergekommen.

Doering: Ich nehme an, daß man unser Kommando dazugezählt hat.

Baretzki: Aber die ganze Tabelle muß ja stimmen.

Vorsitzender: Angeklagter Baretzki, was sagen Sie zur Tat als solcher?

Baretzki: Sie hat sich nicht zugetragen. Ich habe auch keine Häftlinge stehen gesehen.

Verteidiger Gerhardt: Wie groß war der Löäschteich?

Doering: Etwa 8 mal 15 Meter. Er war rechteckig, und seine Wände waren schräg.

Gerhardt: Wurden die Leichen herausgezogen?

Doering: Am nächsten Morgen waren keine Leichen mehr im Löschteich.

Doering wird nach den anderen Zeugen befragt, die diesen Vorfall bestätigen können, und diese werden geladen. Die Staatsanwaltschaft entschließt sich in diesem Fall, Nachtragsanklage zu erheben. [...]

Zeuge Hadas: Ich habe noch einen Fall in Erinnerung, der sich im Jahr 1944 zugetragen haben dürfte. Ich war damals im Kommando Straßenreinigung und lud bei der Küche Abfälle auf einen Rollwagen. Baretzki ging durch das Lager, rief einen Häftling zurück zu sich und gab ihm eine Ohrfeige. Das geschah etwa 10 bis 15 Meter von mir entfernt. Der Häftling wollte sein Gesicht schützen und hob die Hand. Baretzki brüllte ihn an: „Was, du willst einen SS-Mann schlagen?“ und prügelte auf ihn los, trat ihn, nachdem der Mann hingefallen war, und legte seinen Schaufelstiel über dessen Hals, trat auf den Schaufelstiel und wippte so lange, bis der Häftling tot war. Ich sah, wie der Mann weggetragen wurde. Das geschah nach den Ereignissen bei dem Löschteich, zu der Zeit, als die Transporte nach Auschwitz kamen.

Vorsitzender: Diese Aussage ist von größter Bedeutung. Schließen Sie einen Irrtum völlig aus?

Hadas: Ein Irrtum ist nur in der Zeit möglich.

Hotz: Kannten Sie einen Mithäftling namens Doering?

Hadas: Wenn es derjenige ist, der in den Zerlegebetrieben gearbeitet hat, mit dem Vornamen Karol, dann kannte ich ihn. Aber er war nicht in meiner Hundertschaft.

Baretzki: Das stimmt nicht. Ich habe beides nicht gemacht.

Vorsitzender: Angeklagter Baretzki, bereits zwei Zeugen haben uns den Vorfall beim Löschteich geschildert.

Baretzki: Ich habe das nie gemacht. Das konnte gar nicht geschehen, denn in das Wasserbassin durfte ja niemand hinein.

Vorsitzender: Na, zum Vergnügen durfte sicherlich niemand hinein. Aber das geschahh doch nicht zum Vergnügen.

Baretzkli: Nicht einmal ein SS- Mann durfte hinein. Nicht einmal wir durften baden gehen; und das mit dem Schaufelstiel über dem Hals, so etwas habe ich nie gesehen.

Vertreter der Nebenanklage, Raabe: Angeklagter Baretzki, was haben Ihre Vorgesetzten Ihnen über die Behandlung der Häftlinge gesagt? Wurden Sie angehalten, eine harte Disziplin zu halten, brutal und roh zu sein?

Baretzki: Sonst konnte man das Lager ja überhaupt nicht in Schuß halten. Da waren doch Zehntausende Häftlinge. Anders wäre es gar nicht möglich gewesen. Mein Vorgesetzter war jeden Tag im Lager. Das war der Lagerführer Schwarzhuber. Jeden Morgen um halb sechs hat es Befehlsausgabe gegeben, da hat er uns vorgehalten, was nicht in Ordnung war am vorigen Tag. Den Tag über konnte man ja den Lagerführer gar nicht sprechen. Aber am Morgen, da hat er gesagt: Wer hat noch eine Frage? Er wußte über alles Bescheid, was im Lager war, dann war der Teufel los.

Raabe: Haben Sie Vorwürfe bekommen, wenn der Lagerführer erfahren hat, daß Sie Häftlinge geschlagen haben?

Baretzki: Da wurde nur gesagt: „Wenn etwas nicht stimmt, dann fahren Sie dazwischen!“ Mit Güte konnte man sich im Lager nicht durchsetzen.

Der ehemalige SS-Richter und heutige Anwalt Dr. Gerhard Wiebeck berichtet weitschweifig und gelehrt, wie er zur Untersuchung von Korruptionsfällen bei der SS nach Auschwitz gekommen war und was er dort zu beobachten Gelegenheit hatte. Da fährt Baretzki erregt dazwischen:

Baretzki: Ich habe eine Frage an den Zeugen Dr. Wiebeck: Sie waren doch in Auschwitz. Sie sind doch ein Jusrist. Warum haben Sie uns damals nicht gesagt, was da geschehen ist? Da sind doch Tausende von Menschen umgebracht worden. Warum haben Sie denn nicht gesagt, daß das Unrecht ist? Sie waren doch Richter.

Vorsitzender: Angeklagter Baretzki, Sie müßten doch wissen, daß man Menschen nicht umbringen darf.

Baretzki: Ich war in Auschwitz; dort hat man Tausende umgebracht. Man hat uns gesagt, das ist ein Gesetz, das muß so gemacht werden. Das hat der Lagerführer Schwarzhuber bei der Belehrung gesagt. Man hat gesagt, man muß vergasen. Wir wurden von Offizieren und Zivilisten belehrt. Man hat uns gesagt, die Judenvernichtung ist notwendig. Ich bin kein guter Sprecher, Sie müssen mir schon nachhelfen, Herr Vorsitzender. Man hat ja gefragt: Was haben denn die Leute gemacht? Man hat uns gesagt, sie haben Brunnen vergiftet und sie haben Sabotage geübt, und wenn wir gefragt haben: Auch die Frauen und Kinder?, hat man uns zur Antwort gegeben: „Wenn ihr im ersten Schuljahr seid, dann benützt ihr das Schulbuch für die erste Klasse und nicht das für die fünfte.“

Vorsitzender: Auf deutsch: Das versteht ihr noch nicht.

Baretzki: Jawohl. Man hat uns gesagt: Das werdet ihr später erfahren. Man hat uns auch gesagt, was Hitler gemacht hat, ist alles Gesetz. Heute ist es kein Gesetz. Heute ist alles Unrecht, was in Auschwitz geschehen ist. Selbstverständlich haben wir die Tötungen beobachtet. Aber was hier von den täglichen Tötungen gesprochen wird, das ist nicht wahr. Die Häftlinge hätten uns ja in Stücke gerissen, hätten wir einen von ihn erschlagen wollen. Ein Mann kann doch nichts gegen Zehntausende.

Vorsitzender: Die Häftlinge hätten das doch nicht gewagt, das hätte ihren sicheren Tod bedeutet.

Baretzki: So war es nicht in Auschwitz. Täglich totschlagen, das ist nicht wahr.

Vertreter der Nebenanklage, Ormond: Wer hat die Schulung durchgeführt? War das Schulungsleiter Kurt Knittel?

Baretzki: Dieser Nme ist mir bekannt. Die Schulungsleiter haben immer wieder gesagt: Ihr habt die Schulung nötiger als das Brot.

Kurt Knittel ist Regierungsschulrat in Karlsruhe. Für die Justiz ist er nicht erreichbar.

Urteil

Wegen der Beschuldigung, die zuerst der Zeuge Doering ausgesprochen hat und die später von anderen bestätigt worden ist, wurde gegen Baretzki eine Nachtragsanklage erhoben. Darin wird ihm zur Last gelegt, daß er im Löschteich des Lagerabschnitts BIId mehrere Häftlinge ertränkt hat. Die Aussage von Doering war sehr sicher und vorsichtig, sie ist durchaus glaubwürdig. Die Zeugen Lazanowicz und Mikusz bestätigten sie. Ob es sich bei der Schilderung des Zeugen Hadas um denselben oder einen anderen Vorfall handelt, konnte nicht geklärt werden. Da Baretzki ohne Befehl grausam und aus Mordlust handelte, ist er des Mordes schuldig zu sprechen. Es wird angenommen, daß durch ihn mindestens vier Menschen im Löschteich getötet wurden.

Viele Zeugen haben Baretzki auf der Rampe oder als Begleiter von Transporten zu den Gaskammern beobachtet. Aufgrund dieser glaubwürdigen Angaben geht das Gericht davon aus, daß der Angeklagte mindestens in fünf Fällen bei Selektionen geholfen und Opfer zum Krematorium geführt hat und die Zahl der Opfer in jedem Fall mindestens 1.000 betragen hat.

Auch bei Lagersektionen ist Baretzki von vielen Zeugen gesehen worden. Das Gericht nimmt daher an, daß er mindestens fünfmal bei solchen Sektionen mitgewirkt hat und daß bei jeder einzelnen mindestens 50 Menschen für den Tod in den Gaskammern ausgesucht worden sind.

Eine Reihe von Beschuldigungen konnte das Gericht nicht veranlassen, einen Schuldspruch zu fällen: So weicht die in der Hauptverhandlung gemachte Aussage des Zeugen Gotland zu sehr von seinem früher aufgenommenen Protokoll ab, die Angaben von Gwozdzik sind widerspruchsvoll, auch die Bekundungen des Zeugen Dr. Wolken über Erschießungen von einer größeren Zahl von Häftlingen bleiben nicht zweifelsfrei.

Erwiesen scheint dem Gericht hingegen eine andere Aussage von Dr. Wolken: Er hat gesehen, wie Baretzki einen Häftling niedergeschlagen hat, weil er zu langsam grüßte. Als Arzt ist er gleichzeitig ein sachverständiger Zeuge, der angegeben hat, daß der Tod eine Folge dieser Mißhandlung war. Das Gericht beurteilt diese Tat als Mord, da Baretzki zumindest den bedingten Vorsatz hatte und den Erfolg billigte.

Der Teil der Aussage des Zeugen Lazanowicz, in dem er die Ermordung eines jüdischen Häftlings beim Lagertor schildert, konnte nicht gewertet werden, weil wegen dieser Tat keine Anklage erhoben worden war. Dasselbe gilt für die Schilderungen von Otto Kulka, Rosenstock und Hadas, die Baretzki bei der Tötung von Menschen beobachtet haben.

Durch mehrere Aussagen erscheint es erwiesen, daß Baretzki bei der Räumung des Theresienstädter Familienlagers aktiv beteiligt war.

Baretzki hat nach allem erheblich mehr getan, als ihm befohlen wurde, sein Wille ist daher nicht gebeugt worden, das heißt, er kann sich nicht auf Befehlnotstand berufen. Daß das Töten verboten war, wußte er; das geht aus den Fragen, die er dem Schulungsleiter der SS in Auschwitz, Kurt Knittel, gestellt hat, klar hervor.

In fünf Fällen (vier Morde im Löschteich und der von Dr. Wolken geschilderte Mord) ist Baretzki als des Mordes schuldig erkannt worden. Dafür ist er zu lebenslangem Zuchthaus zu verurteilen.

Der Beihilfe zum Mord ist er schuldig: bei mindestens fünf Selektionen, von denen bei jeder mindestens 1.000 Menschen dem Tod überantwortet wurden; bei mindestens fünf Lagerselektionen, von denen jede mindestens 50 Menschen erfaßte. Für jede Tat wird eine Strafe von 31/2 Jahren Zuchthaus ausgesprochen. Für die Mitwirkung an der Räumung des Theresienstädter Familienlagers, die besonders grausam war und 3.000 Menschen betraf, erhält Baretzki eine Strafe von 5 Jahren. Da der Angeklagte Auslandsdeutscher ist und durch den Einfluß des Milieus und seine Schulung zum Mörder wurde, ist das Gericht an der untersten Grenze der zeitlichen Freiheitsstrafen geblieben. Diese werden zu einer Gesamtstrafe von 8 Jahren Zuchthaus zusammengezogen. Gleichzeitig wird Ehrverlust für Lebenszeit ausgesprochen.

Auszüge aus: Hermann Langbein, Der Auschwitz-Prozeß – Eine Dokumentation, Europäische Verlagsanastalt, Frankfurt/ Main 1965

Von Hermann Langbein ist lieferbar: Auschwitz – Zeugnisse und Berichte. Hamburg, Europäische Verlagsanstalt, 320 Seiten, 28 DM