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■ Im Gefängnis von Ankara: kurdische Abgeordnete„Selbst die Vögel singen mit ihrer eigenen Stimme“

Die Fraktionsvorsitzende der Grünen im Europäischen Parlament, Claudia Roth, konnte vergangenen Sonntag jene sechs kurdischen Abgeordneten, die im Dezember durch das Staatssicherheitsgericht Ankara zu Gefängnisstrafen bis zu 15 Jahren verurteilt wurden, besuchen. Die Mehrzahl der Abgeordneten, die der mittlerweile verbotenen „Partei der Demokratie“ angehören, sitzt seit elf Monaten im Gefängnis. Sie waren im März vergangenen Jahres vor dem Parlamentsgebäude von der Polizei festgenommen worden, nachdem in einer Nacht-und-Nebel-Aktion das türkische Parlament ihre Immunität aufgehoben hatte. Die Verhaftung und Verurteilung gewählter Parlamentarier erregte internationales Aufsehen. Das Europäische Parlament verabschiedete mehrere Resolutionen, in denen die anstehende Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Zollunion an die Freilassung der Parlamentarier geknüpft wird. Neben den Abgeordneten Orhan Dogan, Hatip Dicle, Leyla Zana, Selim Sadak, Ahmet Türk war auch Mehdi Zana anwesend. Mehdi Zana, ehemaliger Bürgermeister von Diyarbakir, sitzt eine vierjährige Gefängnisstrafe ab, weil er vor dem Menschenrechtsausschuß des Europaparlaments eine Rede zur kurdischen Frage hielt. Wir dokumentieren im folgenden Auszüge des mehrstündigen Gesprächs, in welchem die Abgeordneten ihre Perspektiven für eine friedliche Lösung des kurdischen Konflikts vortragen.

Claudia Roth: Wir waren bei dem Prozeß zugegen und sind Augenzeugen der Ungeheuerlichkeiten bei der Prozeßführung geworden. Möchten Sie trotzdem Anmerkungen zum Prozeß machen?

Orhan Dogan: Von einem fairen Prozeß gegen uns kann nicht die Rede sein. Bevor der Prozeß überhaupt begann, waren wir schon vorverurteilt. Im staatlichen Fernsehen TRT wurden wir Abgeordnete als politischer Flügel der PKK abgeurteilt. Das Fernsehen blendete unsere Fotos über die Bilder gefallener Soldaten. Die Zeitungen berichteten sogar ganz offen darüber, daß Ministerpräsidentin Tansu Çiller bei der Justiz anklopfte, damit uns der Prozeß gemacht würde. In Windeseile hob man unsere parlamentarische Immunität auf. Wir hatten nicht einmal die Gelegenheit, uns im Rechtsausschuß des Parlaments zu verteidigen. „Wir haben die PKK aus dem Parlament geworfen“, verkündete Çiller nach der Aufhebung unser Immunität in Zeitungsanzeigen. Seit elf Monaten sitzen wir nun schon im Gefängnis. Doch das Gericht hat seit der Urteilsverkündung immer noch nicht die schriftliche Urteilsbegründung vorgelegt. Ich bin zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Als Straftat wird bei Hatip Dicle, Ahmet Türk, Sedat Yurttas und Sirri Sakik angeführt, daß wir im April 93 zu einem Gespräch mit dem PKK-Führer Abdullah Öcalan reisten. Damals stand gerade der einseitige Waffenstillstand der PKK an. Wir hatten unsere Reise vorab der Öffentlichkeit mitgeteilt. Wir besuchten den damaligen Staatspräsidenten Turgut Özal, der uns ermunterte hinzufahren. Und wir wurden vom türkischen Botschafter in Damaskus empfangen. Er dankte für unsere Aufopferung bei dieser historischen Mission. Alles war öffentlich. Während der Gespräche mit Öcalan waren stets Fernsehkameras türkischer Fernsehsender zugegen.

Claudia Roth: Sie reden von einer friedlichen, politischen Lösung. Was bedeuten diese Begriffe konkret? Wer sind die Dialogpartner?

Sedat Yurttas: Ich denke, alle Alternativen hängen davon ab, ob der türkische Staat eine freiheitliche Politik betreibt. Dann kommt alles von selbst: Verankerung der kulturellen Rechte der Kurden in der Verfassung, Rückkehr der Vertriebenen in ihre Dörfer, Generalamnestie. Was den Dialogpartner anbetrifft, ist doch das realistischste, daß die Gewählten in einen Dialog treten, d. h. Abgeordnete, Bürgermeister, Stadträte. Wenn der türkische Staat eine Wende vollzieht, wird sich alles regeln lassen.

Hatip Dicle: Seit siebzig Jahren leugnet der Staat die Existenz der Kurden. Die Kurden haben keinen Rechtsstatus. Wenn die Existenz der Kurden und internationale Konventionen anerkannt würden, hätte man schon viel vollbracht. Doch zuallererst müssen die Waffen schweigen. Solange Menschen sterben, ist auch die türkische Öffentlichkeit schwer zu überzeugen. Es gibt doch positive Beispiele: Nehmen wir Israel, Südafrika oder Nordirland. Die Türkei ist Nato- Mitglied. Wenn die Nato-Generäle ihre türkischen Kollegen überzeugen, dann wird es zu einem Wandel kommen. Sonst ist es schwer.

Claudia Roth: Die Aufhebung Ihrer Immunität und Ihre Verurteilung hat einen Sturm der Entrüstung ausgelöst. Die Solidarität galt Ihnen als gewählten Mandatsträgern. Doch jetzt sind Bestrebungen im Gange, ein Exilparlament zu gründen, dessen Legitimation zweifelhaft wäre. Wie stehen Sie hierzu?

Ahmet Türk: Die Grundlage für die Kurden, sich politisch in der Türkei zu betätigen, wie auch ihre Repräsentation im Parlament, ist ihnen vom Staat entzogen worden. Deshalb haben die Parlamentarier, die ins Ausland geflüchtet sind, eine Initiative gegründet, um das kurdische Volk zu repräsentieren. Wir möchten eigentlich eine Plattform, in der das türkische und kurdische Volk zusammen diskutieren. Weil es die nicht gibt, muß diese Initiative unserer Freunde im Ausland unterstützt werden.

Hatip Dicle: Der türkische Staat hat das Problem, das national hätte gelöst werden müssen, auf die internationale Ebene getragen. Das kurdische Exilparlament ist ein Mittel, um das Problem an die internationale Öffentlichkeit zu bringen. Wir beobachten es. Es ist noch kein richtiges Organ, sondern nur ein Vorbereitungskomitee. Wenn mir ein Mandat angeboten würde, ich würde es annehmen. Auch wenn ich wüßte, daß darauf die Todesstrafe steht. Warum? Um dem Staat der türkischen Republik entgegenzuschreien, daß es keine Lösung ist, mich ins Gefängnis zu stecken.

Leyla Zana: Vor 1980 war die Haltung unter den Kurden gegenüber der Frau eine ganz andere als heute. Die Frau war Gebärmaschine, eine Ware, sie sollte keine Eigenständigkeit haben. Nach dem Militärputsch 1980 und der erfahrenen Repression hat unter den kurdischen Frauen die Suche nach einer Identität begonnen. Zuerst eine nationale, dann eine sexuelle Identität, später eine Identität als Mensch. Wir haben vieles hinterfragt. Heute besteht unsere Identität als Mensch, Frau und Kurdin – eine kurdische Identität nicht im rassistischen Sinn. Wenn einem Türken seine Identität verweigert worden wäre, würde ich heute vielleicht sagen, daß ich Türkin bin. Wenn die Kurden eine Minderheit sind, sollten sie Minderheitenrechte haben. Wenn sie ein Volk sind, sollten sie die Rechte der Völker haben. Wenn sie eine Nation sind, die Rechte der Nationen. Was aber haben die Kurden heute? Selbst die Vögel singen mit ihrer eigenen Stimme. Der türkische Staatspräsident sagt, jeder könne in seinen eigenen vier Wänden sprechen, wie er wolle. Was hat es für einen Sinn, in den eigenen vier Wänden zu sprechen, wenn man sich nicht offen weiterentwickeln kann?

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