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Von wegen Schnorrer

■ Bremer Studie über SozialhilfeempfängerInnen: Ziemlich viele Alleinerziehende und Kinder arm – CDU wurde beim Zuhören ganz still

Beim Stichwort „Sozialhilfe“ gehen „Linke“ wie „Rechte“ gern die Wände hoch: Während die einen die Sozialhilfe als Einstieg in den Abstieg kritisieren und ein Grundeinkommen für jeden fordern, wittern die anderen hinter jedem Sozialhilfeempfänger einen Mißbraucher. Beide haben unrecht. Das sagt jedenfalls eine der ersten Längsschnitt-Studien über SozialhilfeempfängerInnen. Das Projekt „Sozialhilfekarrieren“ der Bremer Uni hat 600 BremerInnen befragt, die 1983 einen Antrag auf Sozialhilfe gestellt hatten, wie es ihnen seitdem ergangen ist. Gestern stellten die WissenschaftlerInnen ihre Ergebnisse der Bremer CDU vor.

Die Ergebnisse in aller Kürze (ausführlich taz v. 28.10.1994): Mehr Menschen als erwartet, nämlich fast die Hälfte, findet in weniger als einem Jahr wieder aus der Sozialhilfe heraus. Entwarnung also? Nein, denn mehr Menschen als je zuvor rutschen irgendwann unter die Armutsgrenze (weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens): Zwischen '84 und '92 waren das 30 Prozent aller Deutschen. Das sind zum Beispiel Menschen, die zwar arbeiten, mit dem Gehalt aber die gestiegene Miete nicht mehr bezahlen können. Oder Arbeitslose, deren Arbeitslosengeld unter dem Sozialhilfesatz liegt. Oder Alleinerziehende. Die finden sich in der Gruppe jener 23 Prozent, die länger als fünf Jahre Sozialhilfe beziehen, besonders häufig.

Still saßen die CDU-Abgeordneten angesichts solcher Fakten. Nur die SozialpolitikerInnen der CDU – Silke Striezel, Roswitha Erlenwein und Peter Kudella – fragten genauer nach. Der Rest schwieg. Kein Wunder, meinte hinterher der Abteilungsleiter für „Wirtschaftliche Hilfen“ beim Sozialsenator, Gerd Wenzel: „Als Kommunalpolitiker sehen die schon ein, daß das Sozialsystem fester gemacht werden muß, aber das können sie ja angesichts der Bonner CDU-Regierung nicht öffentlich vertreten.“ Schließlich seien in der CDU-Amtszeit Arbeitslosengeld und -hilfe gesenkt worden; und auch für ein höheres Kindergeld von 250 Mark kämpft derzeit vor allem die Bonner Opposition – und ein einsamer Heiner Geißler – gegen Theo Waigel. Dabei machen Kinder ein Drittel aller Sozialhilfeempfänger aus.

Doch die Studie muß nicht nur der Bundesregierung zu denken geben, sondern auch der Bremer Sozialbehörde: Heftig kritisierten nämlich die SozialhilfeempfängerInnen in Einzelinterviews die Ämter für Soziale Dienste: Die informierten schlecht. Deshalb will die Behörde nun die Beratung verbessern: Zum einen soll die Broschüre „Informationen zur Sozialhilfe“ lesbarer werden, zum anderen sollen sich die SachbearbeiterInnen eine Stunde Zeit nehmen für NeuantragstellerInnen. Zeit, um zum Beispiel für berufsinteressierte Mütter eine Kinderbetreuung zu organisieren.

Eine Frage brannte den CDUlerInnen dennoch auf den Nägeln: Wieviele SozialhilfeempfängerInnen könnten eigentlich auch arbeiten gehen? Doch die meisten, die nicht arbeiten können, sind Kinder und Alte, anwortete das Forschungsteam. Und die anderen? Nun, die Arbeitswilligkeit allein garantiert noch keinen Arbeitsplatz. Die Anforderungen am Arbeitsmarkt sind gestiegen. Selbst der Lohnkostenzuschuß staatlicherseits zauberte bislang nur 50 Arbeitsplätze herbei – die Firmen scheuen vor dem Negativbild von SozialhilfeempfängerInnen zurück. cis

Bücher über die Studie: Petra Buhr: „Dynamik von Armut“, Opladen 1994; Stephan Leibfried, Lutz Leisering u.a.: „Armutsrisiken in Deutschland“, FfM 1995; Monika Ludwig: „Armutskarrieren zwischen sozialem Abstieg und Aufstieg“, Opladen, 1995

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