piwik no script img

Im Namen des Fernsehvolkes Von Mathias Bröckers

Seit die Live-Übertragungen des Mordprozesses gegen den Footballstar O.J. Simpson in USA die Quoten hochschnellen lassen, werden auch deutsche TV-Macher begehrlich. Natürlich nicht wegen der Quoten, sondern wegen der erweiterten demokratischen Öffentlichkeit. Nicht die Sensationsgier eines auf den Punkt gebrachten Reality- TVs steht auf der Tagesordnung – Kameras, die sich an intimen Details und privaten Schicksalen weiden –, sondern objektive, nüchterne Dokumentation. Wenn Justizverfahren laut Gesetz öffentlich zu sein haben, heißt das im ausgehenden 20. Jahrhundert eben medienöffentlich, argumentieren die Befürworter. Und weisen weit von sich, daß es sich dabei um zynisches Schlüsselloch-TV handelt: Große Wirtschaftsprozesse, Verfahren von politischer Bedeutung, Verfassungsgerichtsverhandlungen wollen sie dem Fernsehvolk ins Wohnzimmer liefern. So weit, so hehr die Absichten. Prozesse wie gegen Honecker oder Mielke oder BVG- Verhandlungen über Paragraph 218, das Asylrecht oder Kampfeinsätze der Bundeswehr – hier wäre die Live-Übertragung durch eine Saalkamera durchaus vorstellbar: Der Gegenstand ist von öffentlichem Interesse, und die Handelnden sind Personen des öffentlichen Lebens. Wäre aber ein Erich Mielke etwa des fortgesetzten Kunstlederhutdiebstahls bezichtigt, sähe die Sache schon ganz anders aus: Die im Prozeßverlauf dargebotenen Informationen und Argumente dienten weder der politischen Bildung noch einem anderen öffentlichen Zweck. Wären aber gleichwohl genau die Sensation, die jedes Court-TV erst richtig scharfmacht, weil sie Quoten und Werbeeinnahmen verspricht. Daß sie darauf und auf nichts anderes zielen, weisen die Fernsehleute natürlich weit von sich – aber wer wird sich die Verhandlung des Verfassungsgerichts über das neue Beschleunigungsgesetz beim Wasserstraßenbau ansehen? Kein Aas – und deshalb geht es im Kern der Debatte eben nicht um politische Bildung und demokratische Öffentlichkeit, sondern um spektakuläre Mord- und Sexprozesse.

Daß der große Oggersheimer (das war der mit der „geistig-moralischen Wende“) jetzt auch noch die ARD abschaffen will, paßt da wunderbar ins Bild. Wenn überhaupt jemandem die TV-Dokumentation von Gerichtsverfahren anvertraut werden könnte, wären das öffentlich-rechtliche Anstalten, doch ebendie will der Kanzler jetzt loswerden. Nur noch Junk-TV à la RTL und Sat.1, stets live aus dem Enddarm des Kanzlers und der Gesäßtasche von Leo Kirch – kein Wunder, daß Berluskohli da zu träumen beginnt. Es wäre an der Zeit, den guten Mann mit der Realität zu konfrontieren: Man müßte ihn nur zwei Wochen in ein amerikanisches Hotelzimmer sperren und Dauerfernsehen verordnen. Falls er von dieser Tortur noch eines klaren Gedankens fähig zurückkehrt, wäre nicht nur der Bestand der ARD ein für allemal gerettet, es gäbe wahrscheinlich sogar eine neue Solidaritätsabgabe für den Ausbau dieses unbezahlbaren Qualitätsfernsehens. Wer über dessen Abschaffung nachdenkt, könnte eigentlich auch die Abschaffung von Richtern fordern und die Entscheidung dem Zuschauer-TED überlassen – die Einsparung bei den Justizkosten wären nicht nur enorm, Werbesponsoren würden sogar noch kräftig draufzahlen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen