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Unterm Strich

An ungewöhnlicher Stelle muß heute Marko Martins Rezension über Christa Wolf erscheinen:

Wolf las im Berliner Hebbel-Theater aus ihrem Manuskript „Medea oder Die Verkennung“. Aus diesem Grunde waren Massen herbeigeeilt und hörten von der Autorin als ersten Satz: „Es macht mich beklommen, daß soviel Leute gekommen sind; ich beginne nicht ohne eine stille Angst.“ Der Dame kam dieses Bekenntnis flott von den Lippen, was nun uns einigermaßen beklommen machte. Wer ist Medea, diese „von düsterem Glanz umgebene Frau“? Als „Barbarin aus dem Osten“ wurde sie vorgestellt, doch je länger die Lesung dauerte, desto vertrauter wurde Medea: ein im Grunde herzensgutes, argloses Landmädel, das in langen Monologen („Traumsprache. Vergangenheitssprache. Im Labyrinth gehen. Was sonst.“) den bekannten Christa-Sound pflegt. Erst die Geschichtsschreibung stempelt sie zur blutrünstigen Kindsmörderin.

Bösewicht der geplanten „Verkennung“ war Euripides, eine Art Vorläufer des maliziösen Westfeuilletons. Medea also klagt ihr Leid, betrachtet Nußbäume vorm Fenster (Wo bleibt das mecklenburgische Bauernbrot?), fühlt sich von Jason verstoßen und mißtraut der Stadt Korinth: „Die Stadt ist auf einer Untat gegründet.“ Obwohl die Wolfsche Medea etwas schusselig ist („Gestern war es. Ja, ich glaube, gestern.“), findet sie Kraft, in die Keller von König Kreons Palast hieinzurobben und dort ein Skelett zu entdecken. Gerne hätten wir hier an Mary Shelley oder Daphne du Maurier übergeben, aber das Publikum lauschte mäuschenstill dieser Mischung aus Holzschnittprosa und vorgestanzten Reflexionen.

Medea ist ein Aufguß von Kassandra, die vor zehn Jahren regimekritisch intendiert war. Was jetzt folgte, war bloße Simulation der Simulation. Müßig die Frage, ob mit Korinth der städtische Westen gemeint sei; der leicht eifernde Ton, mit dem dessen Bewohner der „Geheimnislosigkeit“ und des oberflächlichen Glücklichseins geziehen, ließe darauf schließen. Während aber bei Heiner Müller Jason der Prototyp des westlichen Kolonisators ist, wird er bei Christa Wolf eher als etwas muffeliger Typ dargestellt, der irgendwo auch so seine Probleme hat. Oder haben könnte. Kitschsprache. Leidensklischees. Im Labyrinth äußerst redselig werden. Was sonst.

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