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Schweres Sowjeterbe

Ein Russe, ein Ungar und ein Deutscher diskutieren im taz-Gebäude über Tschetschenien  ■ Von Boris Schumatsky

Berlin (taz) – „Zum ersten Mal hat eine Großmacht den Vertretern einer internationalen Organisation erlaubt, sich in einen Krieg gegen eine nationale Minderheit einzumischen“, sagt stolz Istvan Gyarmati, Leiter der OSZE-Delegation nach Tschetschenien. Während der Podiumsdiskussion über den Krieg in Tschetschenien und die Zukunft Rußlands, die am Dienstag abend im Berliner Gebäude der taz stattfand, erzählte der ungarische Parlamentsabgeordnete und stellvertretende Außenminister zum ersten Mal in Deutschland über seine Erfahrungen im kaukasischen Kriegsgebiet. Darüber sprachen auch der Abgeordnete der demokratischen Fraktion „Jabloko“ in der russischen Staatsduma, Viktor Scheinis, und der Moskauer taz-Korrespondent Klaus-Helge Donath.

Was steckt hinter dem brutalen Vorgehen Moskaus gegen Tschetschenien? Viktor Scheinis hat eine Antwort: Die wirklichen Ursachen des Krieges seien in Moskau und nicht in Grosny zu suchen. Der „Vernichtungskrieg“ gegen Tschetschenien sei von der sogenannten „Partei der Macht“ initiiert worden, die jetzt im Kreml das Sagen habe. Das sei ein Sieg der traditionellen russischen Staatlichkeitsideologie, die das Staatswesen über den Einzelnen stellt.

Scheinis gehört der Generation der Dissidenten an und war seit dem Anfang der Perestroika ein aktives Mitglied der demokratischen Bewegung. 1956, als er seine Habilitation vorbereitete, marschierten die sowjetischen Truppen in Ungarn ein. Scheinis war damals einer der wenigen Intellektuellen, die dagegen protestierten. Seine akademische Karriere nahm ein vorläufiges Ende. Sechs Jahre lang war er Arbeiter an der Kirow- Fabrik. Nun sitzt er mit dem Ungarn Istvan Gyarmati an einem Tisch und sucht nach einem Ausweg aus der neuen Sackgasse, in welche sich Rußland durch seinen Tschetschenien-Einmarsch verirrt hat.

Drei Jahre lang habe der Kreml das Dudajew-Regime in Tschetschenien geduldet – die Argumentation der russischen Propaganda, in Tschetschenien solle die „Verfassungsordnung“ wiederhergestellt werden, findet Scheinis deswegen heuchlerich. In Wirklichkeit stecke der Kampf zwischen zwei bürokratischen Eliten dahinter: den Moskauer Hardlinern und der Dudajew-Administration, die lediglich die tschetschenische Bevölkerung für ihre eigenen Zwecke instrumentalisiere. Jetzt aber betrachteten die Tschetschenier Dudajew angesichts des russischen Genozids als einzige Rettung.

Beide Kriegsparteien wollen bis zum bittersten Ende kämpfen. Es stellt sich somit die Frage, was der Westen tun kann und soll, um diesen Krieg zu beenden. Oder – wie Istvan Gyarmati betont – was die internationalen Organisationen nicht tun können. „Moralisch habe ich ein volles Verständnis für die Forderungen, das Verhalten Rußlands in Tschetschenien eindeutig zu verurteilen“, so der Leiter der OSZE-Delegation. „Wozu würde es aber führen? Man kann einen solchen Krieg mit Hilfe einer internationalen Organisation nur dann (direkt) anhalten, wenn man imstande wäre, mehr Truppen ins Kriegsgebiet zu schicken als beide Konfliktparteien einsetzen können.“ Das nennt Gyarmati ein „unlösbares Dilemma“ der internationalen Politik. Es gebe keine Vereinbarkeit zwischen dem Selbstbestimmungsanspruch der nationalen Minderheiten und dem Recht multinationaler Staaten, ihre territoriale Integrität zu verteidigen.

Sind dann die Hände des Westens gebunden, wie der Moskauer taz-Korrespondent Klaus-Helge Donath meinte? Die OSZE schlägt keine fertigen Lösungen des Tschetschenien-Konfliks vor, sieht aber eine mögliche Zwischenlösung. Sie könne sogar, so Gyarmati, einen Partisanenkrieg nach dem Fall Grosnys verhindern, indem sie auf Wahlen drängt.

Unbeantwortet bleibt da eine Frage, die aus dem Publikum gestellt wird: Wo diese Wahlen angesichts der brutalen Massaker denn stattfinden sollten – auf dem Friedhof vielleicht? Das große Interesse im Westen, von dem nicht zuletzt die Größe und Neugierde des Publikums zeugte, steht in krassem Gegensatz zur Politikverdrossenheit der Russen. Obwohl, wie Viktor Scheinis sagte, die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung gegen den Krieg ist, finden in den russischen Städten keine ernstzunehmenden Anti-Kriegs-Demonstrationen statt. Die Zukunft Tschetscheniens hängt von der Zukunft der Demokratie in Rußland ab. Viktor Scheinis ist in dieser Hinsicht durchaus optimistisch. Dennoch hängt der Erfolg der Reformen in Rußland auch davon ab, ob die Mehrheit der Bevölkerung sich eine demokratische Denkweise aneignen kann. Die Bewältigung der sowjetischen Vergangenheit ist eine unverzichtbare Voraussetzung dafür. Leider können sogar manche Demokraten sich von dieser Erblast nicht lösen. So rutscht Scheinis während der Diskussion heraus, das Baltikum sei voschla Teil der Sowjetunion geworden – also durch Beitritt, nicht militärische Besetzung. Wenn sogar ein Demokrat und Gegner der Tschetschenien-Invasion sich von diesem Klischee der Sowjetpropaganda nicht losreißen kann, droht vielleicht wirklich, wie Donath warnt, eine „Remilitarisierung Rußlands“.

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